J. FREY/J. SCHRÖTER (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament
(Wissenschaftliche Untersuchungen
zum Neuen Testament 181) Tübingen 2005;


Im Vorwort dieses Buches informieren die Herausgeber darüber, dass das Buch "auf ein von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft finanziertes Rundgespräch zurück(geht), das vom 6. bis 8. Oktober 2003 im Dietrich-Bon-
hoeffer-Haus in Berlin-Mitte stattfand"
(V). Motivation für die Behandlung des Themas sei zum einen seine blei-
bende gesellschaftliche Relevanz, die unter anderem an der nach wie vor weiten Verbreitung von Kruzifixen ab-
zulesen sei, zum anderen aber die je neue Erklärungsbedürftigkeit der biblisch im Zusammenhang des Todes Jesu
verwendeten Begriffe "Sühne", "Stellvertretung", "Opfer" usw., deren Aussageabsicht man nur dann erheben kön-
ne, wenn - wie im aufliegenden Band - exegetische und systematische Perspektiven miteinander ins Gespräch ge-
bracht würden.

Ein erstes Kapitel enthält sodann einführende Beiträge zum Thema. JÖRG FREY informiert über aktuelle Pro-
bleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft
und spricht hierbei die zentrale
Bedeutung der Soteriologie im Allgemeinen wie der Frage nach den Deutungen des Todes Jesu im Besonderen an.
Dabei hält Frey es für angemessen, "die an die biblische Sprache angelehnten Kategorien (gemeint sind: Opfer,
Sühne, Stellvertretung) nicht vorschnell preiszugeben, sondern sie nach Möglichkeit in ihrem Sachzusammenhang
und im Sinnhorizont der biblischen Texte zu verstehen"
(12). Denn es sei zu beachten, "daß die bislang vorgeschla-
genen Versuche, die Kategorien von Opfer und Sühne in andere Begriffe zu übersetzen bzw. durch diese zu erset-
zen, sachlich defizient bleiben"
(12). Insbesondere plädiert Frey dafür, den bereits biblischem Kontext entstammen-
dem Sühnebegriff und die "erst in der Neuzeit eingeführte Kategorie" Stellvertretung, die ihrerseits "sehr unter-
schiedliche terminologische Vorstufen in sich aufgenommen hat",
  differenzierend auseinanderzuhalten, ohne beide
gegeneinander auszuspielen (21). Eine weite Interpretation von Stellvertretung könne "als eine zentrale (und auch
systematisch-theologisch fruchtbare) Kategorie der Interpretation des Todes Jesu (und vielleicht - davon abgelei-
tet - auch seiner ganzen Existenz) gelten, sofern man sie für die bei jedem einzelnen Text erforderlichen Präzisie-
rungen offenhält"
(26). Diese Präzisierungen seien dann allerdings unabdingbar, wenn der Facettenreichtum der
neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu zur Darstellung kommen solle.

Vor dem Hintergrund der aus paulinischer Sicht grundlegenden Umwertung des Kreuzestodes Jesu Christi wendet
sich JENS SCHRÖTER in seinem anschließenden Beitrag "Sühne, Stellvertretung und Opfer" noch expliziter die-
sen Begriffen zu und weist darauf hin, dass mit Hilfe der Interpretation dieser Begriffe weder dogmatisches Lehr-
gut in die biblischen Texte hineininterpretiert, noch dieselben Begriffe einfachhin verabschiedet werden dürften
(58). Der Sühnebegriff selbst werde zum einen "in einem weiter gefaßten Sinn verwandt, der nicht an spezielle
griechische bzw. hebräische Terminologie gebunden ist, sondern das Heilshandeln Gottes durch den Tod Jesu ge-
nerell bezeichnen soll"
(59). Gänzlich unvereinbar sei damit aber, dass er "auf der anderen Seite auch als semanti-
sches Äquivalent zu exilaskestai ktl. aufgefaßt wird und sogar als deren Übersetzung dient"
(60). Denn - so das Re-
sümee: "Nur wenn... nicht der Eindruck erweckt wird, mit 'Sühne' würde ein Befund der urchristlichen Texte wie-
dergegeben, ist die Verwendung dieses Begriffes methodisch haltbar"
(66). In gleicher Weise gilt für Schr. auch
hinsichtlich der Begriffe "Stellvertretung" und "Opfer", "daß sie keine unmittelbare Entsprechung in den urchrist-
lichen Texten besitzen, sondern zur Systematisierung des Textbefundes dienen"
(66). FRIEDERIKE NÜSSEL ver-
tritt daran anschließend unter der Überschrift "die Sühnevorstellung in der klassischen Dogmatik und ihre neu-
zeitliche Problematisierung"
die These, "daß die neuzeitliche Problematisierung der traditionellen Deutung des
Todes Jesu Christi durch die Satisfaktionstheorie den Anstoß gegeben hat, im Rekurs auf das Neue Testament ein
tieferes Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi in seiner Bedeutung für den Menschen zu gewinnen"
(94).

Das zweite Kapitel versammelt unter der Überschrift "Alttestamentliche, judaistische und religionsgeschichtli-
che Horizonte"
fünf Beiträge. Zunächst weitet BERND JANOWSKI den Blick vom Leiden und Sterben Jesu auf
sein gesamtes Leben und interpretiert es vor dem Hintergrund alttestamentlicher Beispiele in umfassenderer Wei-
se als eine "Lebenshingabe für andere", welches in allgemeinerer Weise Jesu "bedingungslose Solidarität mit den
Menschen"
meine, die ja seit Schürmann auch "Proexistenz" genannt wird
(116). Sein Tod war damit die Konse-
quenz seines Lebens und nicht dessen "Finalsinn" (116). FRIEDHELM HARTENSTEIN bespricht die "symboli-
sche Bedeutung des Blutes im Alten Testament"
und benennt im einzelnen (i) die reinigende/sühnende Wirkung
des Blutes, (ii) seine Verwendung zur Herstellung und Bekräftigung einer engen Beziehung (Bundesschluß) sowie
(iii) seine apotropäische Wirkung. Hintergrund all dieser Wirksamkeit ist die Vorstellung, dass im Blut das Leben
enthalten ist, welches etwa im Blutritus stellvertretend an das Heilige gegeben wird. JAN WILLEM VAN HEN-
TEN erläutert Jesu Tod vor dem Hintergrund jüdischen Märtyrertums und -verständnisses und stellt dabei
durchaus eine gewisse Kontinuität in der verwendeten Begrifflichkeit fest; gleichwohl hätten die Formeln des
"Sterbens für" und der "Hingabe" engere Parallelen in griechich-römischen Textpassagen als in jüdischen Märty-
rertexten (168). Daran anschließend diskutiert FRIEDRICH AVEMARIE die Kategorien der Lebenshingabe und
des heilschaffenden Todes in der rabbinischen Literatur
. Hierbei kommt der Tod als Sühne für eigene Sünden
in den Blick, ja selbst der Suizid kann als Mittel zur Gewinnung jenseitigen Heiles betrachtet werden. Außerdem
spielt das Sterben um Gottes willen in allgemeinen eine bedeutende Rolle sowie die Sühnewirkung des Todes der
Gerechten. HENK S. VERSNEL betrachtet den Tod Jesu schließlich aus der Perspektive des paganen Umfeldes
und verweist auf gewisse Parallelen im philosophischen Kontext (z.B. Sokrates), aber auch auf die patriotisch mo-
tivierte Hingabe des eigenen Lebens sowie ganz allgemein auf das Motiv des "Sterbens für".

Das dritte, besonders ausführliche, Kapitel des Buches dringt zum Kern der Thematik vor und versammelt zehn
Beiträge, die sich unmittelbar mit der Deutung des Todes Jesu im Neuen Testament und im frühen Christen-
tum
beschäftigen. Hier finden sich eine Reihe von Beiträgen, die auf klassische Weise die Deutung des Todes Je-
su in einzelnen biblischen Schriften bzw. bei einzelnen biblischen Autoren zum Thema machen (Söding/Römer-
brief, Böttrich/Lukas, Breytenbach/1. Petrusbrief, Löhr/Hebräerbrief, Knöppler/Offenbarung). Daneben gibt es aber
auch eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenen argumentativen Verwendungen des Heilstodes Jesu
im NT von MICHAEL WOLTER, eine Reflexion über die Sprachform der erzählenden Deutung am Beispiel
des Todes Jesu von RUBEN ZIMMERMANN und einen Seitenblick auf die Deutungen des Todes Jesu in der Pesach-
Tradition
von CHRISTINE SCHLUND. Das Thomasevangelium, so ENNO EDZARD POPKES, nimmt hinsicht-
lich der Deutung des Todes Jesu eine Sonderstellung ein; denn es "finden sich fast keine Aussagen über das Leiden
und den Tod Jesu... Eine soteriologische Relevanz dieses Geschehens wird überhaut nicht zur Sprache gebracht"

(513). Das Faktum des Todes Jesu wird hier zwar vorausgesetzt, die entsprechenden Deutungen des Todes Jesu
aber nicht übernommen (542). Zuletzt skizziert hier WINRICH A. LÖHR "Deutungen der Passion Christi bei
Heiden und Christen im zweiten und dritten Jahrhundert"
. Natürlich geht er von der Kritik des Heiden Kelsos
aus, kommt auf die Valentinianer zu sprechen und kritisiert allzu einfache Deutungen des Doketismus. Theologie-
geschichtlich seien die gnostischen Passionstheologien "ungeheuer anregend und fruchtbar" gewesen; ihre Wir-
kungsgeschichte erstrecke sich bis in die Christologie des Korans (573).

Das vierte und letzte Kapitel enthält nur zwei Beiträge, in denen zum einen eine systematische Perspektive
auf das Phänomen der Deutung von Leben
und zum anderen ein Blick auf die Konsequenzen der Deutung
des Todes Jesu für die Religionspädagogik
versucht werden. PHILIPP STOELLGER macht dabei zunächst
darauf aufmerksam, dass das Deuten (auch des Todes Jesu) immer ein nachlaufendes Phänomen gegenüber dem
zu Deutenden ist: "Wer deutet, ist schon jenseits der Vollzüge in einer Distanz der Thematisierung, die vorherge-
hen oder nachfolgen kann"
(577). Allerdings ist für das reflektierende Wesen Mensch ein Leben ohne Deutung
seiner selbst nicht denkbar, auch die Deutungen des Todes gehören notwendigerweise hierzu. Die Auferweckung
Jesu Christi sei zu verstehen "als maßgebliche Deutung des Todes Jesu" (600), und zwar durch die Initiative Got-
tes. Der Tod Jesu seinerseits führe dazu, auch die Deutung Gottes zu verändern. In ihrer Auseinandersetzung der
Konsequenzen der Deutungen des Todes Jesu für die Religionspädagogik erläutert MIRJAM ZIMMERMANN,
dass die Deutungen des Todes Jesu bei vielen Schüler und Schülerinnen zunächst kein Interesse erwecken. In der
gegenwärtigen religionspädagogischen Praxis werde das Thema kaum im Lehrplan benannt, auch in den entspre-
chenden Schulbüchern spiele die "Heilsbedeutsamkeit des Kreuzes... insgesamt eine untergeordnete bis marginale
Rolle"
(622). Demgegenüber sei es notwendig, "dem Alter der Kinder angemessene Konzepte der Deutung des To-
des Jesu zuzuweisen, die helfen, Sprachfähigkeit und eigene Urteilskraft zu schulen, so daß die eigene religiöse
Identität gefestigt werden kann"
(633). Dabei könne an Opfer- und Erlösungsszenarien angeschlossen werden, die
in der Lebenswelt der Kinder - aufgrund von Filmen oder Fantasy-Literatur - bereits bekannt seien.

Im Ganzen enthält das Buch eine solch reiche Fülle an Informationen und theologischen Deutungen, dass eine Be-
sprechung wie im aufliegenden Zusammenhang ihm kaum gerecht werden kann. Ein detailliertes Studium jedes
einzelnen Beitrags ist lohnenswert, eine systematische Zusammenschau des gesamten Ertrags wäre höchst spannend
und ausgesprochen hilfreich für die aktuelle Lehre in der Christologie. Verschiedene detaillierte und umfangreiche
Register schließen den verdienstvollen Band ab.

Herbert Frohnhofen, 11. Dezember 2006