Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe. Band 16.1+2: Der
Historismus und seine Probleme (1922), Berlin-New York 2008;


Diese sehr aufwändig gestaltete Edition eines der Hauptwerke des bekannten Theologen und Geschichts-
philosophen steht im Kontext einer bereits seit Jahrzehnten währenden Bemühung um eine auf rund 20
Bände angelegte kritische Gesamtausgabe der Schriften Troeltschs, über die auf den Internet-Seiten der
LMU München näher informiert wird. Motiviert ist die gesamte Edition aus der Tatsache, dass Troeltsch
"in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der wichtigste deutschsprachige Theologe (gewe-
sen sei), der die Diskussion um Religion unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft weit über
die Theologie hinaus entscheidend bestimmte". Für die interdisziplinären Aufgaben der Theologie im
Verhältnis zu diesen Wissenschaften (d.i. Geschichtswissenschaft, Philosophie und Soziologie) sei er bis
heute der wichtigste Anknüpfungspunkt, erklärt an gleicher Stelle die Ernst-Troeltsch Gesellschaft e.V.

In einer ausführlichen Einleitung, der eine Reihe von Bildtafeln zu zeitgenössischen Editionen der Wer-
ke Troeltschs vorgeschaltet sind, macht der Herausgeber detaillierte Anmerkungen zum werkgeschichtli-
chen Kontext der vorliegenden Edition, zum Inhalt und Aufbau des Ersten Buches des edierten Werkes
sowie zu einer Reihe offener Fragen zum Zweiten Buch. Ein ausführlicher editorischer Bericht schließt
sich an, bevor der edierte Text in beiden Bänden folgt und eine Reihe von Registern die insgesamt über
1400 Seiten beschließen.

Das unfreiwillig zum Vermächtnis des Autors gewordene bzw. stilisierte, letztlich freilich Fragment ge-
bliebene hier edierte Werk, so erläutert der Herausgeber in der Einleitung, sei in all seinen gelehrten Er-
kundungsgängen "auf ein gegenwartsnah zugespitztes Grundproblem ausgerichtet: auf die Vermittlung
von Geschichte und Normativität" (2). Troeltsch habe selbst den "Zusammenstoß des historischen Den-
kens und der normativen Festsetzung von Wahrheiten und Werten" als "die Hauptfrage aller Geschichts-
philosophie" bezeichnet (Belege ebd.). Dabei stehe zuletzt die religiöse Motivation im Zentrum, denn:
"Wie läßt sich der je eigene, persönliche Gottesglaube, lebensursprüngliches Vertrauen auf einen abso-
luten Sinngrund alles Endlichen, mit der modernen Denkrevolution, der historistischen Einsicht in die
unhintergehbare Bedingtheit alles Geschichtlichen vermitteln? Wie kann angesichts des Wissens um die
Relativität aller historischen Wirklichkeit kulturellen Realitäten überhaupt noch normative Verbindlich-
keit zuerkannt werden? Bedeutet die progressive Historisierung des kulturellen Wissens nicht notwendig
die völlige Preisgabe aller ethisch relevanten Geltungsansprüche?" (2f). Troeltschs Lebenswerk lasse
sich in all seinen Segmenten "als Versuch einer Ausarbeitung und Beantwortung dieser Fragestellung
rekonstruieren" (3).

Für das hier edierte Buch >Der Historismus und seine Probleme< überarbeitete Troeltsch "zwölf Vorträ-
ge und Aufsätze, die er zwischen 1916 und 1922 gehalten und publiziert hatte" (32). Nach eigener Dar-
stellung geht es ihm dabei darum, den "Konflikt zwischen dem strengen fachmäßigen Wissen der histo-
risch-spezialistischen Forschung und den philosophischen Forderungen an die Geschichte" zu bearbei-
ten, und zwar so, dass die "weltanschauliche Bedeutung des historischen Wissens" erkennbar wird (32).
Die auf diese Weise entwickelte Geschichtsphilosophie wird allerdings insofern fragwürdig, als der so-
genannte >Gegenwartssinn< der historischen Forschung "nicht von außen andemonstriert, sondern aus
den Forschungs- und Erkenntnisprozessen der Historiker selbst erhoben werden" soll (32). Genau dies
freilich dürfte eine krasse Überforderung der historischen Wissenschaft und auch eine Fehldeutung ih-
rer faktischen Funktion und Bedeutung sein. Die historische Wissenschaft gibt in aller Regel die Grund-
linien ihrer Ausdeutung nicht von sich aus vor, sondern steht selbst im Dienst einer wie auch immer ge-
arteten Weltanschauung, durch die die Prinzipien ihrer Ausdeutung von außen an sie herangetragen
werden und sie selbst dementsprechend auch vorstrukturiert wird. Dies dürfte die entscheidende Kri-
tik am Anliegen des Historismus aus heutiger Sicht sein.

Herbert Frohnhofen, 21. Oktober 2011