Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe.
Bd. 2: Rezensionen und Kritiken (1894-1900),
hg.v. Friedrich Wilhelm Graf
in Zusammenarbeit mit Dina Brandt, Berlin-New York 2007;
Dieses aufwändig gestaltete
und mit über 900 Seiten sehr voluminöse Buch ist,
wie
Stefan Pautler infor- miert, der zweite Band einer auf
"gut 20 Bände"
angelegten
"Kritischen Ausgabe sämtlicher Schriften Ernst Troeltschs",
die - gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft - seit 1995
in Augsburg, Frankfurt/ Oder, München und Tübingen erarbeitet wird.
Ziel ist es, nicht nur alle veröffentlichten philosophisch-theo- logischen
Texte, sondern auch handschriftliche Marginalien, Vorlesungsdiktate, parlamentarische
Reden usw. des Theologen und Politikers
Ernst Troeltsch der
Öffentlichkeit zusammengestellt und kritisch ediert zu prä- sentieren.
- Der hier vorgestellte Band 2 ist einer von drei Bänden
mit chronologisch
geordneten Rezensio- nen
und literarischen Essays des Autors und enthält solche aus sieben Jahren;
allein in dieser Zeit setzte sich der offensichtlich bienenfleißige
Theologe mit nahezu 1300 Texten zur Religionsphilosophie auseinander. Insgesamt
- so der Herausgeber im Vorwort - spiegeln diese Rezensionen "das starke
Interesse an prinzipiel- len philosophischen Fragen und die sensible Aufmerksamkeit
für den damals heftig ausgetragenen Methoden- streit in der deutschen
Geschichtswissenschaft" wider (V). Troeltsch nahm dabei "die Rolle
eines Mediators ein, der eine intellektuell ghettoisierende Universitätstheologie
neu mit den in anderen geistes- und histori- schen Kulturwissenschaften
verhandelten Problemen konfrontieren wollte" (VI).
Der ausführlichen Einleitung
ist zu entnehmen, dass der vorliegende Band 46 Rezensionen und vier große
Literaturberichte enthält. Inhaltlich ist eine große Fülle
an Themen zu erkennen, die angesprochen werden: "Neben geschichtstheoretischen
Texten besprach Troeltsch Neuerscheinungen zur Dogmatik, aktuelle Ethik-
Entwürfe, Religionsphilosophisches, populär eingefärbte Schriften
zur inneren Erneuerung des protestanti- schen Christentums und zur Religions-
wie Kirchenreform sowie schließlich akademische Qualifikationsarbei-
ten zur Religions-, Kultur- und Ideengeschichte seit dem 17. Jahrhundert"
(8). Dabei bestimmt Troeltschs Rezensionen die "Zuspitzung auf methodische
Fragen" (10), insbesondere im Hinblick auf die Plausibilität sogenannter
"supernaturalistischer" Denkformen. Großes Interesse entwickelt
Troeltsch an der entstehenden Vergleichenden Religionswissenschaft, verwehrt
sich dabei aber entschieden gegen eine reduktionistische Sichtweise aller
Religion als einer primitiven Philosophie. Demgegenüber würdigt
T. die Perspektive eines Landpfarrers Friedrich, für den gelte: "Religion
ist ihm Entwicklung, Erhebung aus dem vorgefundnen Zu- stande zu der Lebensquelle
in Gott, wodurch wir erst lebendige Personen mit festem Zentrum werden"
(16). Dazu zeigt T. erhebliches Interesse an Forschungen zur Geschichte des
modernen Protestantismus: "Mehrere der hier edierten Besprechungen sind
im engen Zusammenhang mit den diversen historischen Aufsätzen und Lexikonartikeln
zu lesen, die Troeltsch seit Ende der 1890er Jahre schrieb" (18). Überdies
kritisierte T. die "einseitige Vorherrschaft oder gar 'Alleinherrschaft'
von Empirismus, Naturalismus, Evolutionismus und sozi- ologischer Milieutheorie";
diese unterminierten "die tragenden Fundamente sittlicher Kultur, die
nun einmal eine prinzipielle Selbständigkeit des Geistes" voraussetzten
(21). Schauen wir einige seiner Arbeiten detail- lierter an:
Die Besprechung der dritten Auflage
des "Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik" von R.A.
Lipsius etwa nimmt selbst 20 Druckseiten in der vorliegenden Ausgabe ein.
T. erläutert, dass Lipsius in sei- ner neueren Auflage der Dogmatik
die Hauptintention seiner Argumentation verlagert. Während zuvor die
Absicht im Mittelpunkt gestanden habe, den christlichen Glauben als "wahre"
Weltanschauung widerspruchs- los nachzuweisen, stehe nunmehr die Intention
im Vordergrund, dem praktischen, kirchlichen Leben, den "praktischen Nötigungen"
zu dienen (38). Schon hieraus (und aus anderem) gehe hervor, "daß
die wichtig- sten Fortbildungen auf den beiden Gebieten des Religionsbegriffes
und der sog. Christologie vorliegen" (39). Auch in der neuen Auflage
bilde aber die "Verhältnisbestimmung zwischen Religionsphilosophie
und Dog- matik, geschichtlicher Erforschung der Religion und Bestimmung ihres
Wahrheitsgehaltes den wundesten Punkt der Lipsiusschen Dogmatik" (43).
Die tatsächliche Funktion der Religionsphilosophie komme in ihr nicht
zur Geltung und die Religion selbst schwanke (in der Darstellung Lipsius')
"zwischen dem Charakter einer kausal-immanent zu erklärenden Illusion
und einem unkrontollierbaren, auf ein Wirken Gottes zurück- gehenden
Mysterium" (43). Lipsius sei insofern von Kant beeinflusst; der Offenbarungscharakter
des christli- chen Glaubens, wie der Religion im allgemeinen gehe hierdurch
vollständig verloren. Im Hinblick auf einen Vergleich zwischen den Religionen
schließe Lipsius an die hegel'sche Konzeption einer stufenweisen Ent-
wicklung der Religionen an, an deren Höhepunkt das Christentum als vollendete
Religion stehe. Kritisch merkt Troeltsch hiergegen an, dass Lipsius es sich
hiermit - wie andere Theologen - doch relativ leicht ma- che, weil diverse
Fragen, die eine solche Konzeption aufweise unbeantwortet blieben sowie insbesondere
die Topoi Offenbarung und Erlösung hiermit nicht vermittelt würden.
Es mache sich mithin hierin nur das "Be- dürfnis der Theologen...
geltend, das Christentum aus der immanenten Entwickelung doch wieder spezifisch
herauszustellen" (47).
Ebenfalls 16 Druckseiten nimmt eine
Besprechung in Anspruch, die T. dem Werk "Der Glaube und seine Bedeutung
für Erkenntnis, Leben und Kirche" des Julius Köstlin von 1895
widmet. T. würdigt zunächst das Werk des "hochverdiente(n) Lutherforscher(s)"
(65) und Dogmatikers im Ganzen sowie das hier zu bespre- chende Werk als
solches, das - langsam herangewachsen - "den Charakter umsichtigster Durchbildung,
ruhi- ger Reife und augebreiteter Kenntnis aller dogmatischen Verhandlungen"
trägt (66). Solche Würdigung er- freut umso mehr in einer Zeit
wie der heutigen, in der lediglich noch das schnell Zusammengeschusterte,
und möglichst in englischer Sprache Verfasste etwas zu gelten scheint,
auch wenn - oder gerade weil (?) - es dann wenige Monate oder Jahre später
von anderem längst überholt ist. Dieses Werk des Julius Köstlin
hin- gegen "erscheint wie die Frucht eines lange sorgsam geführten,
stets auf der Höhe der Forschung gehaltenen Kollegienheftes, wo alle
Ansichten immer aufs neue durchdacht und erwogen worden sind, bsi sie hier
ihre endgiltige (!) Redaktion gefunden haben" (66). - Inhaltlich ist
die Position Köstlins dadurch geprägt, dass der christliche Glaube
allem anderen religiösen Glauben strikt entgegengesetzt wird. Seine
Wahrheit werde sich aber nur jenem erweisen, der sich auf ihn einlässt,
ergebe sich also wesentlich aus der Erfahrung; genau dies charakterisiere
die neue Entwicklungsphase der Theologie. Erweckt werde der - von Jesus gewollte
- Glaube durch seine Wunder und den Eindruck seiner heiligen, sündlosen
Persönlichkeit, "die auf Willen und Gemüt, nicht auf den Verstand
wirken sollte" (70). Interessant - gerade vor dem Hintergrund aktueller
Dis- kussionen - sind die Hinweise, auf die "Differenz christlichen und
islamischen Glaubens" (79), die darin ge-
sehen werden, "daß Mohammend doch eben nur der
vollendete Prophet ist, während Jesus der menschgewor- dene Gottessohn
ist" (79). Gleichwohl betont Troeltsch auch die Parallelen, vor allem
die: "selbstverständli- che Voraussetzung eines exklusiv supranaturalen
Charakters der eigenen Religion, der gegenüber die andern auf nur allgemeinen,
natürlichen Erkenntnissen und Intuitionen beruhen" (79).
Ähnlichen Umfang hat eine Rezension
der "Dogmatischen Zeitfragen" Martin Kählers (1898). Auch hier
würdigt Troeltsch zunächst den Autor selbst, und zwar als einen
der "charaktervollsten und geistreichsten Vertreter der konservativ-kirchlichen
Theologie" (655). Kähler sei "reiner Biblicist" (655); auf
der Folie der allgemeinen Sündhaftigkeit und Verlorenheit der natürlichen
und außerchristlichen Menschheit erhebe sich ihm die von Bibel und
Kirche bezeugte große Rettungstat Gottes, die sich in einer mit der
Schöpfung der Welt beginnenden wunderbaren Heilsgeschichte vollzog.
Der im "Verkehr mit der Bibel" erzogene Theologe wisse, dass sich
hierin "die seine eigentlichsten Bedürfnisse befriedigende Lebensmacht
erschließt" (655f) und der deshalb eine viel sicherere und tiefere
Erkenntnis habe als die "an der Welt und der stetig wechseln- den Oberfläche
der Dinge herumtastende Wissenschaft" (656). Vor dem Hintergrund heute
verbreiteter Wis- senschaftsgläubigkeit ist es eine interessante - und
einleuchtende - These dass die "profane Wissenschaft... vor einer unendlichen
Progression fortschreitender Erkenntnisse und damit vor einem unüberwindlichen
Re- lativismus" steht; sie habe "keine untrügliche Sicherheit,
sondern überall Möglichkeit des Irrtums" (656).
Vieles wäre hier anzufügen;
die Rezensionen Troeltschs sind eine Fundgrube nicht nur interessanter systema-
tisch-theologischer Überlegungen, sondern sie zeichnen auch ein Bild
des theologischen Diskussionsstandes am Ende des 19. Jahrhundert, das kaum
intensiver an anderer Stelle gefunden werden kann. Im Ganzen gibt das Buch
so nicht nur einen intensiven Einblick in das theologische Denken Ernst Troeltschs,
sondern auch vieler seiner Zeitgenossen, wie seiner Epoche insgesamt. Beigefügt
sind den zahlreichen Rezensionen und Literaturberichten eine ganze Reihe
von Biogrammen wissenschaftlicher Zeitgenossen des Autors, ein un- glaublich
reichhaltiges Verzeichnis (knapp 80 Druckseiten!) von durch T. rezensierten
und angezeigten Schriften, ein darüberhinaus weisendes Verzeichnis von
T. und von den Herausgebern genannter Literatur, sowie ein ausführliches
Personen- und Sachregister. Dies alles macht den Band zu einer reichen Fundgrube
im Hinblick auf die Theologie Ernst Troeltschs und weit darüberhinaus.
Den Herausgebern ist mithin für diesen Band sehr zu danken.
Herbert Frohnhofen, 1. Mai 2008