M. Drewsen/M. Fischer (Hg.), Die Gegenwart des Gegenwärtigen (FS G. Haeffner) Freiburg-München 2006;

Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seit der Verfasser dieser Zeilen vom Jubilar im Rahmen eines Doktor-
examens an der jesuitischen Hochschule für Philosophie in München auf Herz und Nieren geprüft wurde. Mög-
lichkeit und Theorien von menschlicher Freiheit waren das Hauptthema dieser Prüfung. Angesichts derzeitiger
Diskussionen um die Neurowissenschaften erweist sich einmal mehr auch und gerade für die Philosophie: "Es
gibt nichts Neues unter der Sonne." Nun wurde der Jubilar also 65 Jahre alt; als höchst engagierter Professor
und langjähriger Rektor der genannten Hochschule wird er mit dem vorliegenden Band geehrt; auch der jesui-
tische Generalobere, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, ja selbst der Papst lassen es sich nicht
nehmen, hierzu ein freundliches Grußwort zur Gratulation beizusteuern. Inhaltlich kreist der Band um das Phä-
nomen des Erfahrens von Zeitlichkeit und Gegenwart, auch und wesentlich unter der Perspektive der Erfahrung
des Heiligen hierin. Aufgrund der Vielzahl der Beiträge kann hier nur auf einen ausgewählten Teil derselben
kurz eingegangen werden.

Der ERSTE TEIL hat die Erfahrung von Zeit und Gegenwart im allgemeinen, vom Grundsätzlichen her im
Blick. RICHARD SCHAEFFLER geht vom klassischen Topos des vierfachen Schriftsinns aus und konstruiert
auf parallele Weise den "vierfachen Sinn jeder Erfahrung". So ergibt sich aus jeder sittlichen Erfahrung der
Selbsthingabe als anagogisches Sinnmoment die unabweisliche Pflicht der weiteren Selbsthingabe zur Selbst-
findung und Sinnstabilisierung des eigenen Lebens: "Wer sich einmal mit ganzem Herzen an eine Aufgabe bin-
det, sieht das gesamte Feld seiner Erfahrung mit neuen Augen" (76f). Und der Handelnde wird sich eines, ja
seines Weges gewiss, "dessen Verlauf er nicht vorhersehen kann, (der aber) ein 'Weg nach oben' (eine anago-
ge) sein wird. Darin liegt das anagogische Bedeutungselement der sittlichen Erfahrung" (78f). Ähnliches spricht
Sch. dann in überzeugender Weise auch für die religiöse, ästhetische und wissenschaftliche Erfahrung an. Über
Ewigkeit und Zeit sowie das Leben in der Gegenwart handelt im Ausgang von Plotin und Aristoteles FRIE-
DO RICKEN. Während das Ewige hier als das immerwährend und ohne Veränderung Bestehende betrachtet wird,
ist die Zeit Bewegung, die zu je anderem Sein und Seiendem führt. Das Leben in der Gegenwart kann das Ewige
insoweit ergreifen, als es vom unermüdlichen Tätigsein, und damit dem Verändern in der Zeit, absieht und sich
jener Glückseligkeit zuwendet, die sich daraus ergibt, in der Betrachtung alles Zeitlichen das Ewige vor Augen zu
haben. Mit den Interpretationen der augustinischen Zeitanalysen durch drei Komponisten setzt sich JOHAN-
NES SCHABER auseinander. Obwohl die Musik mit ihrer Ausdehnung über die Zeit grundsätzlich der Ewigkeit
entgegenzustehen scheint, suchen alle drei Komponisten - nicht zuletzt durch das Einbringen augustinischer Texte
- eine Wahrnehmung des Ewigen auch über die Musik zu befördern.

Einen ausgesprochen spannenden wie lebensnahen Beitrag zur Diskussion um Zeit und Ewigkeit liefert KURT
WEIS mit seiner Reflexion über die Gefängniszeit. "Wer jemanden einsperrt", behauptet Weis wohl zu Recht,
"will auch Macht über dessen Lebenszeit ausüben". Und: "Wenn Zeit gleich Leben ist, dann ist die 'Zeit hin-
ter Gittern', die Gefängniszeit, wohl weggenommene Lebenszeit" (171). Inwieweit leben wir aber alle in "Zeit-
gefängnissen", sind wir zeitlichen Einschränkungen unterworfen, leiden wir unter zunehmendem Zeitdruck?
Die Erfindung von Gefängnissen mit Zeitstrafen jedenfalls, so Weis, sei eine recht junge Errungenschaft des
16. Jahrhunderts und habe damit zu tun, dass wir erst in der Neuzeit gelernt haben, Zeit zum Handelsgut wer-
den zu lassen; mithin konnte das Nehmen von frei verfügbarer Lebenszeit als Strafe verstanden werden. Im Ge-
fängnis wird die Zeit dann nicht mehr "genutzt", sondern "totgeschlagen", "geschoben", "abgesessen" oder "ab-
gerissen" (176); in auffälligem Gegensatz dazu steht das Leben in der weltweit sich ausbreitenden westlichen Zi-
vilisation, die auf ständige Beschleunigung aller Lebensbereiche angelegt zu sein scheint. HARALD SCHÖN-
DORF geht das Thema des Bandes grundsätzlich an und fragt: "Was ist Gegenwart?" Dabei macht er überzeu-
gend deutlich, dass die Gegenwart unterbestimmt ist, wenn sie rein zeitlich betrachtet wird, zumal "die so ge-
nannte Präsenzzeit, also die spontan als 'Gegenwart' empfundene Zeit, im Regelfall (nur) etwa zwei Sekunden
ausmacht" (197). Vielmehr müsse die Gegenwart als das aktuale Präsentsein, als das Dasein, vor allem also auch
räumlich erläutert und bestimmt werden. Nur was wir aktuell räumlich als präsent erfahren ist für uns gegenwär-
tig, nicht hingegen all das, was (zufällig) gleichzeitig an vielfältigen Orten der Erde geschieht. Die Ewigkeit Got-
tes ist dann als seine All-Gegenwart zu betrachten; Himmel ist "die volle und erfüllte Gegenwart und Anwesen-
heit Gottes und somit Gegenwart alles Positiven, während Hölle die Ferne und Abwesenheit Gottes samt aller da-
raus resultierenden Konsequenzen ist... Man müßte (hier) wohl richtiger vom genauen Gegenteil, von Ewigkeit
sprechen" (208). Sünde ist dann Gegenwartsverlust: "Sie ist nur möglich dadurch, dass Gegenwart verweigert
wird" (208). Ja in der Tat, so und nur so, allein auf diesem Niveau ist philosophisch durchdachte theologische
Anthropologie und Eschatologie möglich. Nur so wird deutlich, dass Gottes Ewigkeit uns jetzt und hier umgreift
gerade dadurch, dass wir voll in unserer Lebenswelt präsent sind und uns auf diese in Gerechtigkeit und Wahrheit
einlassen.

Der ZWEITE TEIL des Buches enthält Beiträge zur Anthropologie der Gegenwart. Knapp aber höchst inter-
essant ist ein Beitrag von ANTONIO PONSETTO über das spontane, tiefgreifende und notwendig auf den Leib
bezogene Wirken des Geistes im Menschen. Der Geist - so Ponsetto - schafft dem Menschen Freiheit: "Als Of-
fenheit, als Aufgabe, als Antwort auf das Unberechenbare, als Auf-dem-Weg-Sein, ist der Geist immer auf die
Kreativität angewiesen, und so fühlt er sich dazu berufen, sich immer wieder neu einzustellen" (285). PETER
EHLEN erläutert die Gottmenschlichkeit des Menschen als Grundprinzip der Anthropologie Simon L. Franks:
Der Mensch ist danach "ein zwei-eines Wesen: Mit seinem Körper und seiner Psyche... gehört er der objekti-
ven Weltwirklichkeit an. Doch in seinem Selbstsein reicht er in die unbegrenzte Tiefe der Realität; er erhebt
sich dadurch über die gegenständliche Wirklichkeit, so dass er sie von einer 'überweltlichen' Instanz her wer-
ten und beurteilen kann" (296). Am Beispiel des Empfindens von Angst macht HANS GOLLER auf den Zu-
sammenhang von Körper und Geist aufmerksam. Trotz moderner Hirnforschung freilich könne dieser Zusam-
menhang bislang nur erlebt, nicht aber genau erkannt und begriffen werden. Die in diesem Kontext heute häu-
fig - etwa von Gerhard Roth - vertretene These eines Cerebrozentrismus, nach dem sowohl die von uns wahr-
genommene Wirklichkeit als auch unsere Identität allein in unserem Gehirn konstruiert werde, wird von HANS-
LUDWIG OLLIG im Anschluss an Stephan Krause und Andreas Kemmerling einer harschen Kritik unterzogen.

Im DRITTEN TEIL des Buches sind theologische Aufsätze versammelt. Hierbei geht es zunächst um die theo-
logische Deutung von Gegenwart bzw. der "Gegenwart als Ort der Erfahrung des Heiligen".  VOLKER LEP-
PIN wirft ein Schlaglicht auf die verschiedenen Formen der Repräsentationsfrömmigkeit im späten Mittelalter
und macht damit deutlich, wie sehr die Verehrung der geweihten Hostie, der Reliquien, des Evangeliars usw., ja
bis hin zur Wahrnehmung des Amtsträgers und vor allem der Heiligen als Repräsentanten Jesu Christi darauf an-
gelegt ist, die "Realpräsenz" des Gottessohnes und damit sein Heil für den Menschen erfahr- und glaubbar zu ma-
chen und zu halten. LOTHAR LIES, der sich seit mehr als 25 Jahren mit der Gegenwart Christi in der Kirche
beschäftigt, erläutert die eucharistische Feier als vierfach differenzierten Sinnrahmen/Segen ("Eulogia"), der "ei-
nerseits (die) Gegenwart Gottes in Christus in seiner Schöpfung und unter den Menschen..., andererseits die Ge-
genwart der gegenwärtigen Welt und ihrer Menschen bei Gott" bedeutet (417). Hieran knüpft auch DOROTHEA
SATTLER an und diskutiert aktuelle Aspekte der sog. Realpräsenz Jesu Christi in den eucharistischen Gestal-
ten. "Im multilateralen ökumenischen Dialog gibt es (zwar) im Blick auf das Bekenntnis zur eucharistischen Re-
alpräsenz - entgegen mancher Fehlmeldung... - keine kirchentrennende Kontroverse mehr...; umstritten sind viel-
mehr die theologischen Verstehensmodelle beim Zustandekommen der Realpräsenz" (431), und damit "wie sich
die möglicherweise nicht gegebene gläubige Unterscheidungsgabe zwischen dem Brot und dem Leib Christi bzw.
zwischen dem Wein und dem Blut Christi konkret auswirkt" (432). Im Anschluss an Karl Rahner plädiert S. für
"eine stärkere Wertschätzung der personalen Dimension sakramentaler Feiern" (441), welches dazu führt einzu-
sehen, dass "die Entfaltung der Wirksamkeit dieser Gegenwart (Jesu Christi) auf die gläubige Aufmerksamkeit...
durch die Mahlhaltenden angewiesen" (441) ist.

Mit Bezug auf die Philosophie Heideggers und Gadamars entwickelt MEDARD KEHL das Konzept der Dog-
matik als einer "theologischen Phänomenologie". Der Bezug auf die gelebte Gegenwart des Glaubens solle
in den einzelnen theologischen Lehrstücken nicht nur - wie in den neueren Lehrbüchern üblich - über den "Zu-
gang" und die - nach den "biblischen Grundlagen" und der "dogmengeschichtlichen Entwicklung" - jeweils ab-
schließende "systematische Reflexion" genommen werden, sondern die gegenwärtige Gestalt des christlichen
Glaubens solle als eigener "locus theologicus" wieder ausgeprägter ernst genommen werden. Erst hiermit
werde die Theologie jener Hochschätzung des Glaubenssinns (sensus fidei) gerecht, die das II. Vatikanum (vgl.
LG 12) ausdrücklich in Worte gefasst hat (410). Am Beispiel seiner eigenen Schöpfungstheologie von 2006, in
der sowohl die Liturgie als auch die "externe Vernünftigkeit des Schöpfungsglaubens" (413) eine bedeutende
Rolle spielt, verdeutlicht Kehl dieses sehr plausible und theologisch weiterführende Konzept. JOSEF SCHMIDT
diskutiert die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele aus philosophisch-theologischer Perspektive. Nach
einem Referat der einschlägigen historischen Positionen von Plato bis Fichte kommt er zu folgendem Ergebnis:
"Philosophisch lässt sich festhalten: Der Mensch stößt als Maßstab seiner geistigen Vollzüge auf ein Ewiges, Ab-
solutes. Dieses kann nicht nur Konstrukt sein, sondern muss als in sich und aus sich selbst Seiendes begriffen wer-
den" (470). Und: "Der Bezug zur Theologie lässt sich... so darstellen: Die Abhängigkeit vom Ewigen begreift
der biblische Glaube als Geschöpflichkeit... Der Mensch lebt von der Präsenz Gottes in ihm. D.h.: das Geschaf-
fensein der Welt kommt in ihm besonders zum Ausdruck. Denn Gott ist als letzte Macht der Welt auch die kon-
stitutive und tragende Präsenz in ihr" (470f). Überdies: Der ewige Gott vollendet seine Präsenz in der Welt durch
seine Inkarnation in Jesus Christus. Und daraus folgt: "Nur in diesem Geist, d.h. in Einheit mit dem so konkret
gewordenen Gott können wir unsere jeweilige Bestimmung als Menschen erreichen. Einsgeworden mit ihm müs-
sen wir unsere Endlichkeit und Kontingenz nicht mehr fürchten" (471). In Bezug auf die Frage nach einem den
biologischen Tod überdauernden Leben ergibt sich, dass "Tod und Wiederbelebung der Person ein Geschehen
sein muss... Man kann also durchaus von einer Auferstehung im Tode sprechen" (473). Die Rede von der kollek-
tiven Auferstehung betone den Gemeinschaftsbezug menschlicher Existenz sowie die Tatsache, dass erst "am En-
de der Menschheitsgeschichte... über unser Handeln ein letztes Urteil gesprochen werden" kann (474).

Ein letzter Abschnitt des Buches enthält Beiträge zum Thema "Gegenwärtige Herausforderungen der The-
ologie". PETER NEUNER zeichnet unter der Überschrift "Dogma und Erfahrung" den Weg von einem vor-
konziliaren, autoritätsgestützten, extrinsezistischen Offenbarungsverständnis, das im I. Vatikanum seinen Hö-
hepunkt fand, hin zu einem erfahrungsgestützten Offenbarungsverständis nach, das die Lehren des II. Vatika-
nums prägt. Dogmen, so N., können nach letzterem Modell verstanden werden "als Berichte über Erfahrungen,
die Menschen jeweils in ihrer Zeit mit Erfahrungsberichten der Glaubensüberlieferung gemacht haben und die
sie weiter erzählten, damit spätere Generationen aus ihnen und mit ihnen nun ihrerseits Glaubenserfahrungen
machen könnten. So gesehen sind Dogmen Kommunikationsmittel von Erfahrung zu Erfahrung" (520). Im Aus-
gang von einer chronologisch orientierten Darstellung der Tätigkeit des "Ökumenischen Arbeitskreises" formu-
liert THEODOR SCHNEIDER einen flammenden Appell zu einem spirituellen Aufbruch in der Ökumene;
und er schließt sich damit ausdrücklich den entsprechenden Äußerungen Kardinal Walter Kaspers und Papst Be-
nedikts XVI. an: "Umkehrbereitschaft, erneutes Maßnehmen am Evangelium, Wesentliches von Unwesentlichem
unterscheiden, angesichts der Brisanz unserer Glaubenssituation die Angst überwinden, Vertrautes loslassen zu
sollen - dazu bedarf es... einer neuen Öffnung für Gottes Heiligen Geist" (555). PAUL-WERNER SCHEELE
schließt sich ebenfalls diesem Appell an und verweist dabei auf Pluralisierung, Globalisierung und Säkula-
risierung als bedeutsame Herausforderungen auch für die Arbeit an der Ökumene.

Im Ganzen liegt ein Buch vor uns, das bei aller Unterschiedlichkeit der bearbeiteten Themen mit seinem Ti-
tel das die Vielzahl der Beiträge Verbindende doch recht genau ausdrückt: Es geht um unsere Gegenwart, de-
ren unabänderliche Eingebundenheit in den Fluss der Zeit und vor allem den diese Gegenwart tragenden und
gestaltenden Ewigen. Als Festgabe, die wie üblich auch einen kurzen Lebenslauf und eine Bibliographie des
Jubilars enthält, ist sie ein würdiges Geschenk für Gerd Haeffner; gerne schließe ich mich von dieser Stelle
den vielfältigen Gratulationen an.

Herbert Frohnhofen, 11. April 2007