"Gegenüber dem Widerspruch
der Sünde, der Dislokation des Menschen im Verhältnis zu Gott,
zur Welt und zu sich selbst,
erweist sich die versöhnende Gnade Gottes als Relokation des Men-
schen in der Beziehung zu
Gott und so auch in der Beziehung zu sich selbst und zur Welt ande-
rer Menschen und ihrer natürlichen
Umwelt. Das läßt sich am Beispiel der Vergebung in zwi-
schenmenschlichen Beziehungen
deutlich machen. Wenn ich die Beziehung zu einem Men-
schen, mit dem ich z.B. in
Freundschaft verbunden bin, durch mein schuldhaftes Tun verletze,
kann ich diese Beziehung
nicht von mir aus wiederherstellen. Ich kann mein Handeln bereuen,
kann versichern, daß
ich die Wiederherstellung unserer Beziehung wünsche. Ich kann um Ver-
gebung bitten, aber ich kann
mir nicht selbst vergeben, weil ich nicht der bin, der durch mein
Handeln in der Beziehung
geschädigt worden ist. Die Beziehungslogik enthüllt die Ohnmacht
des Menschen zur Wiedergutmachung
seiner schuld und zur Wiederherstellung seiner Gottesbe-
ziehung aus eigenen Kräften.
Die Angewiesenheit aller menschen auf Gottes Gnade als Verge-
bung ist die Umkehrung -
und in dieser Umkehrung die Bestätigung - ihrer Angewiesenheit
auf Gottes schöpferische
Gnade.
(436:) Am Beispiel der gestörten
zwischenmenschlichen Beziehung können wir sehen, warum
die Gnade Gottes gegenüber
dem von Gott entfremdeten Menschen die Gestalt der Vergebung
annimmt. Wie kann eine gestörte
Beziehung wiederhergestellt werden? Nur so, daß der, den
ich durch mein Handeln verletzt
habe, mir meine Schuld vergibt. Aber das hat einen hohen
Preis. Es verlangt die Identifikation
dessen, der in der Beziehung verletzt worden ist, mit dem, der
diese Verletzung zu verantworten
hat und seinem in Reue und Buße zum Ausdruck kommenden
Wunsch zur Wiederherstellung
der Beziehung, die aber von ihm nicht selbständig realisiert wer-
den kann. Diese Identifikation
ist stets eine doppelte: Es ist die Identifikation mit der Schuld,
aber zugleich auch mit der
Ohnmacht und Schwäche des Schuldigen, diese Schuld zu überwin-
den und die gestörte
Beziehung selbständig wiederherzustellen. Aber noch mehr: Der in der
Be-
ziehung Verletzte muß
die Wiederherstellung und darum die Aufrechterhaltung der Beziehung
für höher erachten,
als die Wiedergutmachung für die ihm zugefügte Verletzung. Er
muß da-
rum die erlittene Verletzung
in seine Geschichte integrieren und den Schmerz der Verletzung
auf sich nehmen. Der Vergebende
trägt den Schmerz der gestörten Beziehung, nimmt diesen
Schmerz aber in der Vergebung
auf sich, weil die Wiederherstellung der Beziehung wichtiger
ist, als die Vergeltung für
den zugefügten Schmerz. Vergebung bedeutet nicht, daß einfach
ne-
giert wird, daß die
Beziehung verletzt worden ist. Vergebung heißt nicht: 'Es ist ja
nichts pas-
siert', so daß der
Vorgang einfach - Schwamm drüber! - vergessen werden könnte.
Vergebung
ist nur möglich aufgrund
der Anerkennung von Schuld, aufgrund der Übernahme von Ver-
antwortung. Vergebung erfordert
insofern die Aufdeckung der Wahrheit: der Wahrheit über
die Schuld im Schuldbekenntnis
und der Wahrheit über die zugesagte Wiederherstellung der
Beziehung in der Zusage der
Gnade.
Die Analogie einer gestörten
und durch Vergebung wiederhergestellten zwischenmenschli-
chen Beziehung erschließt
uns wichtige Aspekte des Kreuzestodes Jesu Christi als des escha-
tologischen Ereignisses der
Verwirklichung der Gnade Gottes als versöhnende Gnade. Das
Kreuz Jesu Christi zeigt
uns die Identifikation Gottes mit den im Widerspruch gegen Gott le-
benden Menschen, die Identifikation
mit unserer Schuld (437:) und die Identifikation mit un-
serer Ohnmacht zur Wiederherstellung
der Beziehung zu Gott aufgrund unseres Handelns.
Es zeigt aber zugleich den
Schmerz, den Gott im Tod Jesu Christi um der Aufrechterhaltung
und Neubegründung unserer
Beziehung zu Gott unserem Schöpfer willen auf sich nimmt.
Dieser Schmerz aber ist der
Schmerz der Liebe Gottes, der um seiner entfremdeten Geschöp-
fe willen in Treue zu seinem
ursprünglichen Willen zur Gemeinschaft mit seiner Schöpfung
das Kreuz Christi in seine
Geschichte aufnimmt und durch die Auferweckung Jesu, dem mit
unserer Schuld und Ohnmacht
Identifizierten, die Beziehung zu seinen menschlichen Ge-
schöpfen wiederhergestellt
hat. Wir empfangen Gottes versöhnende Gnade als Zuspruch der
Vergebung unserer Sünde
um Jesu Christi willen, indem Gott uns aus der Knechtschaft des
Widerspruchs gegen Gott befreit
und uns neu seine Gemeinschaft schenkt, wo immer die Bot-
schaft von der Gnade Gottes
in Jesus Christus von uns im Glauben, im bedingungslosen Ver-
trauen auf Gott angenommen
wird.
Vom Menschen erfordert Vergebung
einerseits, daß die Sünde als Schuld übernommen wird,
daß das sündige
Person-Sein als Entfremdung von Gott begriffen wird und damit anerkannt
wird, daß die Taten
der Sünde in der zerbrochenen Beziehung zu Gott begründet sind,
die vom
Menschen aus eigener Kraft
nicht geheilt werden kann. Sie erfordert aber andererseits, daß der
Zuspruch der Gnade Gottes
als Zusage der in Christus geheilten Gottesbeziehung als Befreiung
von der Schuld und als Einweisung
in die Verantwortung vor Gott angenommen wird... Das
Person-Sein wird so neu definiert
durch das Geschenk der Gnade Gottes, durch die von Gott
selbst neu eröffnete
Gottesbeziehung. Mit dieser Botschaft bestreitet der christliche Glaube
die
Gültigkeit der Definition
'Der Mensch ist das, was er tut' und stellt dagegen die Behauptung:
'Der Mensch ist das, was
an ihm von Gott getan wird' - oder in Luthers klassischer Formulie-
rung: 'Hominem iustificari
fide.'
Die vergebende Gnade Gottes
können Menschen nur als Geschenk und Gabe im Glauben an-
nehmen, aber in dieser Gabe
liegt die Wiederherstellung der menschlichen Handlungsfähigkeit.
Vergebung ist die Befreiung
zum gerechten Handeln, weil dieses Handeln nicht mehr durch die
Schuld der Vergangenheit
blockiert ist und weil es nicht mehr (438:) daran orientiert sein muß,
den Wert des Handelnden unter
Beweis zu stellen und sich Anerkennung zu verdienen, sondern
dem Wohl und Nutzen des Nächsten
dienen kann und damit an der Liebe ihr Kriterium erhält.
Menschliches Handeln bleibt
in diesem Leben Fragment, immer wieder neu bedroht von Verir-
rung und Verfehlung, genau
so wie menschliches Dasein Fragment bleibt, bis es von Gott durch
seine vollendende Gnade zur
Ganzheit seiner Erfüllung gebracht wird. Auch Menschen, die Ver-
gebung empfangen und im Glauben
angenommen haben, bleiben auf Gottes Gnade angewiesen,
leben in der Hoffnung, daß
die Fragmente menschlicher Werke und Leistungen und das Frag-
ment, das menschliches Leben
ist, von Gott vollendet, zur Ganzheit gebracht werden in der voll-
endeten Gemeinschaft Gottes
mit seiner versöhnten Schöpfung. Die im Glauben an die vergeben-
de Gnade Gottes begründete
Hoffnung auf Gottes vollendende Gnade bedeutet für den Menschen
die Aussöhnung mit der
menschlichen Unvollkommenheit, die Befreiung vom Zwang zur selbst-
zuschaffende Perfektion,
die Versöhnung mit dem Fragmentcharakter des Lebens in der Hoff-
nung auf seine gnädige
Vollendung durch Gott."