Chr. SCHWÖBEL, Gnadenlose Postmoderne? Ein theologischer Essay, in: DERS., Christlicher
Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 421-451, 435-438;

"Gegenüber dem Widerspruch der Sünde, der Dislokation des Menschen im Verhältnis zu Gott,
zur Welt und zu sich selbst, erweist sich die versöhnende Gnade Gottes als Relokation des Men-
schen in der Beziehung zu Gott und so auch in der Beziehung zu sich selbst und zur Welt ande-
rer Menschen und ihrer natürlichen Umwelt. Das läßt sich am Beispiel der Vergebung in zwi-
schenmenschlichen Beziehungen deutlich machen. Wenn ich die Beziehung zu einem Men-
schen, mit dem ich z.B. in Freundschaft verbunden bin, durch mein schuldhaftes Tun verletze,
kann ich diese Beziehung nicht von mir aus wiederherstellen. Ich kann mein Handeln bereuen,
kann versichern, daß ich die Wiederherstellung unserer Beziehung wünsche. Ich kann um Ver-
gebung bitten, aber ich kann mir nicht selbst vergeben, weil ich nicht der bin, der durch mein
Handeln in der Beziehung geschädigt worden ist. Die Beziehungslogik enthüllt die Ohnmacht
des Menschen zur Wiedergutmachung seiner schuld und zur Wiederherstellung seiner Gottesbe-
ziehung aus eigenen Kräften. Die Angewiesenheit aller menschen auf Gottes Gnade als Verge-
bung ist die Umkehrung - und in dieser Umkehrung die Bestätigung - ihrer Angewiesenheit
auf Gottes schöpferische Gnade.

(436:) Am Beispiel der gestörten zwischenmenschlichen Beziehung können wir sehen, warum
die Gnade Gottes gegenüber dem von Gott entfremdeten Menschen die Gestalt der Vergebung
annimmt. Wie kann eine gestörte Beziehung wiederhergestellt werden? Nur so, daß der, den
ich durch mein Handeln verletzt habe, mir meine Schuld vergibt. Aber das hat einen hohen
Preis. Es verlangt die Identifikation dessen, der in der Beziehung verletzt worden ist, mit dem, der
diese Verletzung zu verantworten hat und seinem in Reue und Buße zum Ausdruck kommenden
Wunsch zur Wiederherstellung der Beziehung, die aber von ihm nicht selbständig realisiert wer-
den kann. Diese Identifikation ist stets eine doppelte: Es ist die Identifikation mit der Schuld,
aber zugleich auch mit der Ohnmacht und Schwäche des Schuldigen, diese Schuld zu überwin-
den und die gestörte Beziehung selbständig wiederherzustellen. Aber noch mehr: Der in der Be-
ziehung Verletzte muß die Wiederherstellung und darum die Aufrechterhaltung der Beziehung
für höher erachten, als die Wiedergutmachung für die ihm zugefügte Verletzung. Er muß da-
rum die erlittene Verletzung in seine Geschichte integrieren und den Schmerz der Verletzung
auf sich nehmen. Der Vergebende trägt den Schmerz der gestörten Beziehung, nimmt diesen
Schmerz aber in der Vergebung auf sich, weil die Wiederherstellung der Beziehung wichtiger
ist, als die Vergeltung für den zugefügten Schmerz. Vergebung bedeutet nicht, daß einfach ne-
giert wird, daß die Beziehung verletzt worden ist. Vergebung heißt nicht: 'Es ist ja nichts pas-
siert', so daß der Vorgang einfach - Schwamm drüber! - vergessen werden könnte. Vergebung
ist nur möglich aufgrund der Anerkennung von Schuld, aufgrund der Übernahme von Ver-
antwortung. Vergebung erfordert insofern die Aufdeckung der Wahrheit: der Wahrheit über
die Schuld im Schuldbekenntnis und der Wahrheit über die zugesagte Wiederherstellung der
Beziehung in der Zusage der Gnade.

Die Analogie einer gestörten und durch Vergebung wiederhergestellten zwischenmenschli-
chen Beziehung erschließt uns wichtige Aspekte des Kreuzestodes Jesu Christi als des escha-
tologischen Ereignisses der Verwirklichung der Gnade Gottes als versöhnende Gnade. Das
Kreuz Jesu Christi zeigt uns die Identifikation Gottes mit den im Widerspruch gegen Gott le-
benden Menschen, die Identifikation mit unserer Schuld (437:) und die Identifikation mit un-
serer Ohnmacht zur Wiederherstellung der Beziehung zu Gott aufgrund unseres Handelns.
Es zeigt aber zugleich den Schmerz, den Gott im Tod Jesu Christi um der Aufrechterhaltung
und Neubegründung unserer Beziehung zu Gott unserem Schöpfer willen auf sich nimmt.
Dieser Schmerz aber ist der Schmerz der Liebe Gottes, der um seiner entfremdeten Geschöp-
fe willen in Treue zu seinem ursprünglichen Willen zur Gemeinschaft mit seiner Schöpfung
das Kreuz Christi in seine Geschichte aufnimmt und durch die Auferweckung Jesu, dem mit
unserer Schuld und Ohnmacht Identifizierten, die Beziehung zu seinen menschlichen Ge-
schöpfen wiederhergestellt hat. Wir empfangen Gottes versöhnende Gnade als Zuspruch der
Vergebung unserer Sünde um Jesu Christi willen, indem Gott uns aus der Knechtschaft des
Widerspruchs gegen Gott befreit und uns neu seine Gemeinschaft schenkt, wo immer die Bot-
schaft von der Gnade Gottes in Jesus Christus von uns im Glauben, im bedingungslosen Ver-
trauen auf Gott angenommen wird.

Vom Menschen erfordert Vergebung einerseits, daß die Sünde als Schuld übernommen wird,
daß das sündige Person-Sein als Entfremdung von Gott begriffen wird und damit anerkannt
wird, daß die Taten der Sünde in der zerbrochenen Beziehung zu Gott begründet sind, die vom
Menschen aus eigener Kraft nicht geheilt werden kann. Sie erfordert aber andererseits, daß der
Zuspruch der Gnade Gottes als Zusage der in Christus geheilten Gottesbeziehung als Befreiung
von der Schuld und als Einweisung in die Verantwortung vor Gott angenommen wird... Das
Person-Sein wird so neu definiert durch das Geschenk der Gnade Gottes, durch die von Gott
selbst neu eröffnete Gottesbeziehung. Mit dieser Botschaft bestreitet der christliche Glaube die
Gültigkeit der Definition 'Der Mensch ist das, was er tut' und stellt dagegen die Behauptung:
'Der Mensch ist das, was an ihm von Gott getan wird' - oder in Luthers klassischer Formulie-
rung: 'Hominem iustificari fide.'

Die vergebende Gnade Gottes können Menschen nur als Geschenk und Gabe im Glauben an-
nehmen, aber in dieser Gabe liegt die Wiederherstellung der menschlichen Handlungsfähigkeit.
Vergebung ist die Befreiung zum gerechten Handeln, weil dieses Handeln nicht mehr durch die
Schuld der Vergangenheit blockiert ist und weil es nicht mehr (438:) daran orientiert sein muß,
den Wert des Handelnden unter Beweis zu stellen und sich Anerkennung zu verdienen, sondern
dem Wohl und Nutzen des Nächsten dienen kann und damit an der Liebe ihr Kriterium erhält.

Menschliches Handeln bleibt in diesem Leben Fragment, immer wieder neu bedroht von Verir-
rung und Verfehlung, genau so wie menschliches Dasein Fragment bleibt, bis es von Gott durch
seine vollendende Gnade zur Ganzheit seiner Erfüllung gebracht wird. Auch Menschen, die Ver-
gebung empfangen und im Glauben angenommen haben, bleiben auf Gottes Gnade angewiesen,
leben in der Hoffnung, daß die Fragmente menschlicher Werke und Leistungen und das Frag-
ment, das menschliches Leben ist, von Gott vollendet, zur Ganzheit gebracht werden in der voll-
endeten Gemeinschaft Gottes mit seiner versöhnten Schöpfung. Die im Glauben an die vergeben-
de Gnade Gottes begründete Hoffnung auf Gottes vollendende Gnade bedeutet für den Menschen
die Aussöhnung mit der menschlichen Unvollkommenheit, die Befreiung vom Zwang zur selbst-
zuschaffende Perfektion, die Versöhnung mit dem Fragmentcharakter des Lebens in der Hoff-
nung auf seine gnädige Vollendung durch Gott."