Christina-Maria Bammel, Aufgetane Augen - Aufgedecktes
Angesicht. Theologische Studien
zur Scham im interdisziplinären Gespräch (Öffentliche
Theologie 19) Gütersloh 2005
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer
Dissertation, die im Jahr 2003 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät
der Humboldt-Universität Berlin angenommen wurde. Anliegen
des Buches ist eine theologische Annäherung an das Phäno-
men der Scham, wobei Ergebnisse der Theoriebildung zur Scham aus
anderen Wissensgebieten (Philosophie, Psychologie
und Soziologie) einbezogen und im Hinblick auf die
"Fragen nach
Gott und nach der menschlichen Gottesbeziehung" (15)
untersucht werden sollen. Dabei bezieht sich die Studie
"einerseits
auf ihre (d.i. der Scham) emotionale Seite, andererseits
auf ihre Relevanz für die ontische Beschreibung des menschlichen
Daseins" (16). In einer ersten Annäherung wird die
Scham als ein
"Konfliktgefühl" bezeichnet, das sich
auf die Leiblichkeit des Menschen bezieht (18); das Personsein des
Menschen hängt wesentlich vom Umgang mit diesem Gefühl
ab.
Der
erste Abschnitt befasst sich sodann mit dem
Phänomen
der Scham. Dabei wird die Scham zunächst als
"eine Art
Ängstlichkeit (Schamangst), eine Charakterhaltung (Schamhaftigkeit)
oder ein komplexes Reaktionsmuster mit kogniti-
ven und affektiven Strukturmomenten" (25) beschrieben. Verschiedene
Formen und Sichtweisen der Scham werden hier
ebenso aufgeführt und erläutert wie das
"emotionale
Profil der Scham" (66ff).
"Wer sich... schämt", so
die Autorin,
"reagiert emotional auf die Gefahr der Herabsetzung seines Selbstwertgefühls"
(66). Die leibhafte Dimension der Scham
wird angesprochen; denn
"Scham ist... nicht nur auf den Körper
bezogen, sondern ihr eignet ein tiefer innerer Bezug
zum leiblichen Dasein(s) als Ganzen" (79). Im Ausgang von Friedrich
Nietzsche wird die kulturelle Funktion der
Scham beschrieben als Element, das der
"Gemeinschaft zu Stabilität
(verhilft) auf dem Fundament strikter Reziprozi-
tät... Eine Schamkultur (nämlich) baut auf selbst verantwortliche
Individuen, die wissen, was sie der Gemeinschaft
schuldig sind, indem sie den Anderen als gleichgestelltes Gegenüber
ihrer eigenen Person wertschätzen" (94f). Um
überhaupt Schuld wahrhaft empfinden zu können, bedarf
es nach der Autorin der Fähigkeit, Scham zu fühlen, zu er-
kennen und artikulieren zu können. Von besonderer Bedeutung
erscheint dabei die Darstellung der Scham im drama-
tischen Theater oder auch in den modernen Medien Film und Fernsehen.
Der
zweite Abschnitt behandelt das
biblische Sprechen
von der Scham. Im Alten Testament spielt die Rede von der
Scham eine große Rolle; Scham und Schuld sowie Schande hängen
eng zusammen. Der enge
"Zusammenhang von
Scham und aufgetanen Augen wird klassisch in der Urgeschichte von der
Übertretung des Gebotes Gottes durch Adam
und Eva (Gen 3,5ff) als Grundgeschichte der Menschheit dargestellt"
(112). Die neue Erfahrung ist hier die akute
Bloßstellung. Plötzlich - und zwar infolge der Sünde (!)
-
"stellt Intimität ein Problem dar, und es bestehen Grenzen
für die Bereiche des je Eigenen" (112). Das Offenlegen und entsprechende
Bloßstellen von Schuld oder zumindest
ambivalentem Verhalten führt zu Scham, ggf. auch zu kollektiver Scham.
Die Rede vom
"Gesicht" steht dabei für
den Einbezug der Leiblichkeit des Menschen überhaupt. Erst die Vergebung
führt dazu, dass aus der Schuld gewach-
sene Scham aufgelöst wird und sich verflüchtigen kann. Im Neuen
Testament spielt die Scham eine weniger bedeutsa-
me Rolle, kommt jedoch auch zur Geltung. Gerade hier liegt der Fokus darauf,
dass die Menschen von objektiver
Schuld wie von Schuldgefühlen gepeinigt werden und sich deshalb auch
schämen. Erst die göttliche Neubestimmung
des menschlichen Seins erlöst den Menschen aus dieser Situation und
spricht ihn frei.
Der
dritte, der ausführlichste,
Abschnitt versucht
eine
systematische Durchdringung der Gottesbeziehung des
Menschen unter der besonderen Perspektive der Scham. Hier nimmt die
Autorin zunächst Bezug auf Sören
Kierkegaard und dessen These, dass der Selbstbegründungsversuch des
Menschen, sein Sich-Selbst-Setzen, sich
bleibend in Angst und Verzweiflung ausdrückt; und
"hier kommt
die Scham als eine Gestalt oder Spezialform
der Angst ins Spiel" (178). Denn:
"Die von sich selbst anfangende
Subjektivität, die stets neu auf die Einsicht ge-
stoßen wird, verkehrt begonnen zu haben, wird von existentieller
Scham begleitet" (178). In systematischer Per-
spektive wird die Scham heute als
"unwillkürliche Reaktion...
psycho-somatischer Art" gedeutet, welche die erste
Folge der Sünde sei (222). Sie greife weiter und tiefer als das Schuldgefühl,
weil sie auch jene Beschädigungen
umfasse, für die eine betroffene Person keine Verantwortung übernehmen
muss, die sie dennoch zutiefst betref-
fen. Im weiteren Verlauf des Abschnitts diskutiert die Autorin die Bedeutung
der Scham in den Theologien von
Eugen Drewermann, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer sowie die Wandlung
des Schamerlebens, welches durch
die Versöhnung mit Gott und die Vergebung der Sünde eintritt.
Im
"geheiligten Leben", so der Abschluss dieses
Kapitels, ist das
"Reden über die Scham... eine wichtige, Tabu-entmachtende
Umgangsweise mit der Scham, die
ihre Tendenz zur Verstellung begrenzt" (310). Dementsprechend seien
die Räume innerhalb der christlichen Ge-
meinschaft Orte, an die dieses Reden von Hause aus gehöre.
Der
vierte Abschnitt des Buches behandelt das
Konfliktgefühl
der Scham aus philosophischer Perspektive.
Dabei geht die Autorin aus von der Darstellung Herrmann Schmitz', der
die Scham als ein Gefühl beschreibt,
demgegenüber der Mensch machtlos ist:
"Scham kommt wie von selbst
und ebbt ab wie von selbst" (316). Das
Verhältnis des Gefühls zur Rationalität wird ausgelotet
und sodann die Bedeutung der Scham für die Grundbe-
ziehungen der Menschen diskutiert. Die Bedeutung der Scham für die
Ethik des Menschen und sein unverwech-
selbares Personsein stehen hierbei im Mittelpunkt. Im
fünften
Abschnitt schließlich diskutiert die Autorin die
Scham als Fundament von Theatralität, Drama und dramatischem Denken.
Schamerfahrung, die
"ihren
Ort inmitten der komplexen Muster des Strebens nach Selbstwert in allen
nur erdenklichen Lebenslagen" (456)
hat, steht damit selbstverständlich in engem Bezug zu jenem Drama,
das von Menschen aufgeführt wird, um
ihr Leben darzustellen, vorzuführen und auszubreiten, um auf diese
Weise seinen Wert, ja den Selbstwert zu
gewinnen und zu erhalten. - Im Ganzen geht das Buch zwar vom Phänomen
der Scham aus, entwickelt hier-
aus aber ein breites Lehrstück zur philosophischen und theologischen
Anthropologie im allgemeinen, und ist
deshalb hierfür sehr wertvoll.
Herbert Frohnhofen 1. Oktober 2006