Ulrike Stölting, Christliche Frauenmystik im Mittelalter.
Historisch-theologische Analyse, Mainz 2005;


"Die christliche Mystik soll, in einem Teilbereich, in ihrer geschichtlichen Eigenart dargestellt und analysiert
werden" (12). So beschreibt die Autorin das Ziel ihrer umfangreichen und ambitionierten Studie. Und weiter:
"Im Kontext der christlichen Mystik spielen seit dem 12. Jahrhundert erstmals auch Frauen eine große Rolle;
das 13. Jahrhundert war die Hoch-Zeit der Frauenmystik. Diese ist Gegenstand der folgenden Untersuchung,
und zwar als Gesamtphänomen. Um es erfassen zu könne, mussten somit alle in diesem Zeitraum aufgetrete-
nen Autorinnen mystischer Werke verhandelt werden" (12). Allerdings beschränkt sich die Untersuchung auf
jene Frauen, die ihre mystischen Erfahrungen schriftlich dokumentiert haben; hierbei wird auf die "jeweils zu-
verlässigsten Editionen" zurückgegriffen (14). "Den Untersuchungen zu den einzelnen Mystikerinnen wird ei-
ne Textauswahl in deutscher Sprache beigefügt. Ausgesucht", so die Autorin, "wurden... Beispiele, die die Art
des Schreibens, die Eigenart und Argumentation sowie zentrale Aussagen einer 'Autorin' exemplarisch reprä-
sentieren können" (14).

Eine ausführliche Einführung wird zunächst der Mystik im allgemeinen, sowie der mittelalterlichen und
darin der Frauenmystik im besonderen gewidmet. Der Mystik-Begriff bezeichnet für die Autorin "diejeni-
gen religiösen Erfahrungen, die nach der Meinung derer, die sie machen, die normalen Möglichkeiten der Ver-
nunft oder des Bewusstseins übersteigen und zu einer unmittelbaren Nähe oder Einigung des Individuums mit
'dem Heiligen', dem Göttlichen oder Gott führen - eine unio mystica" (16f). Die Stufen auf dem Weg zu dieser
Begegnung, so die Autorin, würden von den Mystikern oft als leidvoll erfahren und könnten detailliert darge-
legt werden; diese selbst aber vermittle eine Glückserfahrung, die sich jeder Beschreibbarkeit entziehe. Deswe-
gen griffen Mystiker oft auf Bilder und auf eine poetische Sprache zurück (18). - Den Entstehungskontext der
mittelalterlichen Mystik sieht die Autorin in der ausgeprägten Kloster- und Ordensspiritualität; die Mystik der
männlichen Theologen erscheint als wesentlich geprägt durch den Neuplatonismus und Dionysius Areopagita
sowie die Liebesmystik des Bernhard von Clairvaux und das hier verwendete "dreifache Stufenschema, das im
Christentum seit der Zeit des Origenes verbreitet war... - die Unterscheidung in eine asketische Reinigung, ei-
ne tugendhafte Erleuchtung und eine liebende Einigung" (39). Die Frauenmystik ist Teil einer religiösen Frau-
enbewegung, die ihrerseits mitgeprägt wird durch ein Leben im Kloster, das dem Virginitätsideal der Zeit ent-
spricht und den Frauen erlaubt, sich nicht in die Abhängigkeit und Zwänge der Ehe begeben zu müssen.

Ein erstes Kapitel ist sodann der europäischen Frauenmystik im 12. Jahrhundert, d.h. insbesondere Hil-
degard von Bingen und Elisabeth von Schönau gewidmet. Nach einer kurzen Vita, einer inhaltlichen Ein-
ordnung der jeweiligen Werke und einer Diskussion der Quellenlage stellt die Autorin die Visionen der beiden
Mystikerinnen mit einigen knappen Textbeispielen aus deren Schriften und Briefcorpus vor. Ganz ähnlich ver-
fährt sie im zweiten Kapitel ("Flämische Beginen-Mystikerinnen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhun-
derts") in Bezug auf die Beginenschülerin Beatrijs von Nazareth; kompliziert ist hingegen die Situation bei
jener "Hadewijch" genannten Person, die ein bedeutendes literarisches Zeugnis hinterließ, zu der eine Vita aber
nicht überliefert ist. Vermutlich war sie eine Begine, kam aus der Nähe von Antwerpen, war überaus gut gebil-
det und stand mit wichtigen Theologen ihrer Zeit in Kontakt. In ihren mystischen Visionen "scheint die Anglei-
chung an Gott im Vordergrund zu stehen, während die Briefe dann eher das Menschsein betonen und im Sinne
der lateinischen christlichen Tradition auffordern, um Christi willen zu leiden und sich erniedrigen zu lassen,
auch wenn dabei viel erduldet werden muss" (128). Insgesamt steht die Mystik Hadewijchs "in Vielem der Ge-
dankenwelt der Mystikerinnen des 12. Jahrhunderts... nahe, ist aber entschieden 'subjektiver'" (129). Neu ist ge-
genüber der Frauenmystik des 12. Jahrhunderts auch "die Betonung des konkreten Dienstes für die Armen und
Kranken, die Handarbeit sowie für die Mitmenschen schlechthin" (130).

Das dritte Kapitel ist der deutschen Mystik im 13. Jahrhundert, und hier insbesondere der Begine Mecht-
hild von Magdeburg und vor allem der Mystik von Helfta gewidmet. Mechthilds bekanntes Werk "Das flie-
ßende Licht der Gottheit" ist das erste mystische Werk von hohem literarischem Rang, das in volkssprachlichem
Niederdeutsch geschrieben ist. Hildegard und Elisabeth hatten ihre Werke lateinisch verfasst, Beatrijs und Hade-
wijch in der ihnen eigenen flämischen Umgangssprache. Mechthild stellt das "Fließen" der trinitarischen Gott-
heit in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen sowie die Auffassung, dass "die tiefste Gotteserkenntnis in mysti-
scher Versenkung nur mit dem 'dritten' (geistigen) Auge möglich sei" (176). Die den beiden Klosterfrauen von
Helfta, Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta, zugeschriebenen Werke werden heute als Gemein-
schaftsarbeiten angesehen, "an deren Verschriftung und Endredaktion mehrere Schreiberinnen beteiligt waren"
(215). In der Mystik Mechthilds von Hackeborn "spielen die Motive eine Rolle, die für das Leben in Frauen-
konventen dieser Zeit bestimmend waren. Sehr stark wird der Wert der Keuschheit oder Reinheit hervorgehoben,
die Selbstaufopferung, der Gehorsam und der hohe Wert des Leidens, die Zurücknahme allen Eigenwillens und
aller selbständigen Verhaltensweisen, ein immer neu betontes Sündenbewusstsein auch in Bezug auf geringfügig-
ste 'Sünden'" (232). Auch Gertrud, die sich durch rasche Auffassungsgabe und hohe Intelligenz auszeichnete, er-
fuhr ihre Berufung zur Mystikerin bereits in jungen Jahren. Hervorgehoben wird die Christozentrik ihrer Lehre,
die eine "Mittlerstellung Marias" als "Mediatrix" zwischen Christus und den Menschen ablehnt (280).

Der vierte Abschnitt trägt die Überschrift: "Französischsprachige Mystik im späten 13. und zu Beginn des 14.
Jahrhunderts" und beschreibt vor allem die Mystik von Marguerite Porete, welche "im Kontext der Mystike-
rinnen des 13. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle ein(nimmt)" (323). Anders als Hadewijch
von Antwerpen und Mechthild von Magdeburg geriet sie aufgrund ihrer Schriften nicht nur unter Häresiever-
dacht, sondern wurde tatsächlich angeklagt, verhielt sich "abweisend, bisweilen sogar mit einer gewissen Arro-
ganz" gegenüber dem Gericht und starb im Jahr 1310 auf dem Scheiterhaufen (324). Sie "lebte", so drückt es
St. aus, "nach den Vorgaben, die sie als Mystikerin theoretisch zu vermitteln versucht hatte, und zeigt, wie an-
dere Frauen in der Geschichte, die der Gewalt durch die männliche Obrigkeit widerstanden hatten, Charakter-
stärke und ein hohes Maß an Authentizität" (324f). Anders als die bisher im Buch vorgestellten Mystikerinnen
schreibt Marguerite kein religiöses Bekenntnis- sondern ein mystagogisches Lehrbuch mit dem etwas kompli-
zierten Titel "Der Spiegel der einfachen zunichte gewordenen Seelen". Marguerite vertritt hierin "eine Liebes-
mystik, die das Thema 'Minne' oder Liebe nicht in der innerhalb der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts ge-
wohn
ten Weise behandelt: Es fehlt jede erotische Metaphorik" (325). Stattdessen ist ihre Redeweise oft apo-
phatisch und abstrakt; selbst die Heilsmittel der Kirche scheint sie abzulehnen.

Das fünfte und letzte Kapitel behandelt die franziskanische Frauenmystik im 13. und zu Beginn des 14.
Jahrhunderts. Nach einem kurzen Blick auf Klara von Assisi, Douceline von Digne und Margareta von Corto-
na geht es hier vor allem um die Mystik der Angela von Foligno. Diese "hat die Spiritualität weiter Kreise im
Spätmittelalter und in der Neuzeit beeinflusst. Ihre Schriften wurden mehr als die anderer Mystikerinnen gele-
sen, wie die große Zahl von Handschriften und später Druckausgaben zeigt" (451). Die Mystik Angelas ist ei-
ne intensive Liebesmystik; sie ist "von einer leidenschaftlichen Liebe zum Gekreuzigten, zu Gott, zum Heiligen
Geist oder auch zur ganzen Trinität bestimmt" (469).

Im Ganzen gibt das Buch einen hervorragenden Einblick in das Phänomen der mittelalterlich-christlichen Mys-
tik von Frauen. Insbesondere die zahlreichen und ausführlichen Textbeispiele lassen etwas von der unbändigen
Liebeskraft aufleuchten, die sich in den hier beschriebenen und sicherlich auch in vielen anderen namenlosen
Frauen dieser Zeit auf die göttliche Trinität konzentiert hat.

Herbert Frohnhofen, 11. November 2006