Renate Steiger, Gnadengegenwart. Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer
Orthodoxie und Frömmigkeit (Doctrina et pietas II/2) Stuttgart-Bad Cannstatt 2002;

Dieses großformatige, in edlem Leinen gebundene und mit knapp 400 Seiten recht umfangreiche Buch nimmt
den Buchliebhaber auf den ersten Blick für sich ein, da es schon äußerlich einen sehr hochwertigen Eindruck
vermittelt. Hierzu tragen wesentlich auch die vielen Abbildungen, der ansprechende Satz und nicht zuletzt die
beiden beigefügten Tonträger (CD) mit zahlreichen Klangbeispielen bei. Renate Steiger, die von 1986 bis 1999
Vorsitzende der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung war, versammelt in dem
Band Arbeiten, die in dieser Zeit entstanden sind und oft mit der Vorbereitung der im Jahresabstand stattfin-
denden Tagungen in Verbindung stehen. - "Johann Sebastian Bachs geistliche Vokalmusik", so betont sie gleich
in der einführenden Zusammenfassung, "haben als Gegenstand nicht nur der Musikhistorie und -interpretati-
on zu gelten sondern in gleichem Maße als Gegenstand der theologischen Forschung, bilden diese Werke doch
einen der großen Höhepunkte in der Geschichte der Schriftauslegung" (VI). Die Schriftauslegung aber - so er-
läutert sie mit Bezug auf Martin Luther - habe wesentlich unter dem Aspekt der "Gnadengegenwart" Jesu Chris-
ti zu geschehen. Gemeint ist, dass die Schriftauslegung nicht nur das vergangene Kommen Jesu Christi ins Fleisch
(Perfekt) und das erhoffte Kommen dereinst (Zukunft), sondern immer auch das gegenwärtige Kommen zu je-
dem einzelnen Gläubigen im Blick haben müsse und dürfe. Genau diese "Gnadengegenwart" habe aber vor al-
lem Johann Sebastian Bach bei seinen Kompositionen vor Augen gehabt und dieselbe durch deren Aufführun-
gen auch sehr gefördert (XVII).

Das umfangreiche ERSTE KAPITEL ist der Kantate und ihrer Tradition der Schriftauslegung bzw. als Pre-
digt sui generis gewidmet. Drei Kantaten (BWV 67, 78, 72) werden detailliert vorgestellt; danach wird noch
Bezug auf den Schlusssatz von BWV 61 Bezug genommen. Der musikalische Verlauf der Kantaten wird von
der Autorin genau nachgezeichnet und auf den vermittelten Text bezogen. Tenor dabei ist: "Die Musik tut, wo-
zu der Text auffordert. Sie hält das Schriftwort im Gedächtnis" (7). Die Musik gewinnt damit selbst Predigtcha-
rakter. In der zweiten der besprochenen Kantaten steht - wie allgemein im Jahrgang der Choralkantaten - der
Eingangschor im Mittelpunkt. Hierzu "ist festzuhalten, daß Bach in diesem Choralchorsatz in besonderem Ma-
ße Auslegungsarbeit geleistet, d.h. besonders viele theologische Aussagen in der musikalischen Gestaltung be-
rücksichtigt hat, was mit der Struktur des zugrundeliegenden Textes und seinem Inhaltsreichtum zusammenhängt"
(36). Die dritte Kantate "Alles nur nach Gottes willen" ruft auf zu Gelassenheit und Gottergebung und stellt
Christus - bis hinein in seinen Kreuzestod - als Beispiel hierfür vor. Das ZWEITE recht knappe KAPITEL
mit dem Titel "Angewandte Emblematik" zeigt am Beispiel der Kantate "Ich will den Kreuzstab gerne tragen"
(BWV 56) auf, mit wievielen Sprachbildern Bach arbeitet, woher sie genommen sind und welche theologische
Bedeutung ihnen innewohnt. Das Leben wird als Schiffahrt gedeutet; der Gläubige hat einen Kreuzstab zu tra-
gen, um auf diese Weise dem Leiden Christi nachzufolgen, Plagen stehen für die Widrigkeiten des Lebens
und im Tod darf der Mensch endlich sein schweres Joch ablegen.

Das DRITTE KAPITEL behandelt unter dem Titel "Musikrezeption reformatorisch" die Matthäus-Passion
(BWV 244) und die Kantate "Ich geh und suche mit Verlangen" (BWV 49). Die Passionsaufführung in der
Karfreitagsvesper, so die Autorin, "war für Johann Sebastian Bach das musikalische Hauptereignis des Jah-
res" (129). Dabei ist die bach'sche Matthäus-Passion eine sog. oratorische Passion, für die die Mehrschichtig-
keit des Textes charakteristisch ist. Das heißt: dem "zugrundeliegenden Bibeltext ... sind Kirchenliedstrophen
und Stücke freier Dichtung (Rezitative und Arien) eingefügt" (129). Hieraus ergibt sich genau das, was oben
unter dem Stichwort "Gnadengegenwart" angesprochen wurde: "eine Perspektive und Tiefenschichtung, die
den Hörer auf dem Wege einer ästhetisch vermittelten Zeiterfahrung dem gemeinten Inhalt, der Bedeutung der
Passion Jesu Christi für ihn selbst, näherbringt" (129). Gerade das Moment des Betrachtens ist "das Proprium
der oratorischen Passion: die historia, der Handlungsablauf, wird immer wieder unterbrochen durch betrach-
tende Stücke, durch Reflexion, Deutung und Aneignung in eingeschobenen Liedstrophen und neu gedichteten
Rezitativen und Arien" (130). Eine Parallele sieht die Autorin hierbei zu Recht zur Passions-Predigt, in der es
in ähnlicher Weise darum geht, die historisch geschehene Passion zu verheutigen, gewissermaßen dem Hörer
"ins Herz (zu) malen" (132). Insbesondere die eingefügten Choralstrophen, die wahrscheinlich von Bach selbst
ausgewählt wurden, dienen als Kommentar und Identifikationsangebot für die Zuhörenden; in ähnlicher Wei-
se, so die Autorin, fügten auch die zeitgenössischen Prediger Liedstrophen in ihren Vortrag ein, um Ruhepunk-
te zu schaffen und das Gesagte zu wiederholen und zusammenzufassen (140).

Das VIERTE KAPITEL steht unter der Überschrift "Versöhnung durch das Blut Jesu Christi" und bespricht
zahlreiche Stellen des Bach'schen Werkes, in denen auf das Erlösungswerk Jesu Christi durch sein Blut Bezug
genommen wird. Dabei stellt sich heraus, dass die Versöhnung durch das Blut Christi "als zentraler Gegenstand
des Glaubens in besonderer Weise während der Passionszeit, aber darüber hinaus rund ums Kirchenjahr in Pre-
digt und geistlicher Dichtung dargestellt" wird (222). Einzelne Lieder kommen dabei in verschiedenen Zusam-
menhängen immer wieder vor. Das FÜNFTE KAPITEL ("Ars moriendi") ist nur sehr kurz. Es macht auf eine
Reihe von Stellen in Bachs Werk aufmerksam, die zur allgemeinen Todesbetrachtung mahnen sowie dazu, auf
rechte Weise - d.h. auf das Wesentliche gerichtet - zu leben, um so auch in rechter Weise zu sterben. Das eben-
falls kurze SECHSTE KAPITEL ("Zur lutherischen Musikanschauung") bespricht verschiedene wiederkeh-
rende Motive in der Darstellung der Bach'schen Musik, wie beispielsweise das Verhältnis von Braut und Bräuti-
gam, das Bild vom Hirten sowie die Rezeption von Motiven aus der antiken Mythologie, bevor im abschließen-
den SIEBTEN KAPITEL ("Hermeneutica sacra und musikalische Struktur") spezifisch kompositorische
Kunstgriffe Bachs (der Quartsprung, Moll- und Dur-Parallelen, die Rhythmik, das Echo und anderes) darge-
stellt und in ihrer Bedeutung interpretiert werden.

Im Ganzen liegt mit diesem Buch eine Einführung in die theologische Interpretation Bach'scher Musik vor, die
- gerade in Verbindung mit den zahlreichen Tonbeispielen aus den beigefügten CD - auch dem musikalischen
bzw. musikwissenschaftlichen Laien sehr sehr Vieles aufzuschließen vermag. Nicht zuletzt das detaillierte Quel-
lenverzeichnis und die zahlreichen Register tun ein Übriges dazu, dass dies ein überaus nützliches Handbuch zur
Interpretation der Bach'schen Musik geworden ist.

Herbert Frohnhofen, 11. Mai 2007