Irene Dingel (Hg.), Die Debatte um die Wittenberger Abendmahlslehre und
Christologie (1570-1574) (Controversia et Confessio 8) Göttingen 2008;


Im Vorwort dieses fast 1200 Seiten umfassenden Bandes erläutert die Herausgeberin, dass die edierten
Texte aus einem Fundus stammen, der über lange Zeit als "unnützes Theologengezänk" abgetan worden
sei und inhaltlich lediglich der Kontroverstheologie gedient habe. Erst heute werde deren "richtungwei-
sende Kraft für die sich bildenden Konfessionen" zunehmend beachtet, so dass ein größeres Augenmerk
auf die tatsächlichen Inhalte der Texte gelegt werde (V). In einer historischen Einleitung zu den Texten
legt I. Dingel dar, dass bereits in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts ein innerprotestantischer
"theologischer Differenzierungsprozess ein(setzte), der weitreichende Auswirkungen auf gesellschaftlicher
und politischer Ebene hatte" (3). Die im vorliegenden Band edierten Texte stellten "entscheidende Mei-
lensteine und Schnittstellen auf dem Weg zu einer theologisch-konfessionellen Lehrbildung dar" (3).

Die Edition selbst besteht aus vierzehn zum Teil sehr umfangreichen Texten, die zum Teil zweispra-
chig (lateinisch-deutsch) vorgelegt werden und denen jeweils eine erläuternde Einleitung mit Nach-
weisen auch zur Editionsgeschichte beigefügt ist. Einer der zentralen Texte ist sicher der Wittenber-
ger Katechismus von 1571, der ja auch wesentliche Anstöße für die sich anschließenden Kontrover-
sen gab. Von der Wittenberger theologischen Fakultät in lateinischer Sprache erstellt, schloss er vor
allem an die Schriften Melanchthons an und sollte dem Schulunterricht dienen. Die mit ihm verbun-
dene Absicht war es, eine angemessene Brücke zu bilden vom Kleinen Katechismus Martin Luthers,
dessen Lektüre vorausgesetzt war, hin zu den Loci theologici des Melanchthon. Inhaltlich gewann der
Katechismus große Bedeutung aufgrund seiner Aussagen über Gesetz und Evangelium im ersten Teil.
"Den heftigsten Widerspruch erfuhr jedoch die katechetische Erläuterung der Himmelfahrt Christi"
(84). Deren Erläuterung wurde zum Teil so verstanden, "dass eine Interpretation möglich ist, nach
der die Gegenwart Christi seiner menschlichen Natur nach auf den Raum des Himmels beschränkt ist"
(84). Dies wiederum wurde von lutherischer Seite als Verunmöglichung der Realpräsenz Christi im
Abendmahl interpretiert, weswegen die Lehre des Katechismus heftig bekämpft wurde.

Aus der "Flut von Gegenschriften" (293), die der Katechismus hervorrief, ist zum Beispiel diejenige
des Braunschweiger Superintendenten Martin Chemnitz interessant, welche dieser auf Anfrage des
Stadtrates von Wittenberg verfasste. Chemnitz kam zu dem Ergebnis, "dass der Katechismus die Leh-
re Zwinglis, Calvins und anderer fördere, während die Positionen Luthers zu Christologie, Himmel-
fahrt zur Rechten Gottes verworfen würden" (295). Überraschend für den heutigen Leser ist schon,
wie sehr dabei die Gegenwart des auferstandenen Christus räumlich gedacht wird, wenn er argumen-
tiert: "Nu mache ein jeder Christ selbst die rechnung: Mus Christi Leib an einem orte vnnd im Hi-
mel vmbfangen oder beschlossen sein vnd sein heiliges Abendmal wird nicht im Himel, sonder
auff erden vnf nicht an einem, sondern an vielen vnterschiedenen örten gehalten, so wird daraus
vnwidersprechlich folgen, das Christi waren Leib in seinem Abendmal, welches auff erden gehalten

wird, wesentlich nicht gegenwertig sey, sondern das von dem gesegneten Brodt, welchs wir in seinem
Abdnmal mit vnserem munde empfangen, der Leib Christi so weit vnd ferne abwesende sey, so weit
vnd ferne der höchste Himmel von der Erden ist" (300f). Auch mit der Vorstellung der Art und Wei-
se des Zusammenkommens beider Naturen in Christus setzt Chemnitz sich sehr kritisch auseinander.

In ähnlicher Weise könnten nun viele andere Beispiele dafür angeführt werden, wie intensiv, aber
auch zum Teil aufgrund ganz anderer kontextueller Vorstellungen als heute theologische Auseinan-
dersetzung erst vor gut 400 Jahren geführt wurde. Vor allem deshalb ist diese Edition eine wahre
Fundgrube für den heutigen systematischen Theologen, und nicht nur den protestantischen.

Herbert Frohnhofen, 1. Oktober 2011