Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII.
Europäischen Kongresses für Theologie 18.-22. September 2005 in Berlin (Veröf-
fentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29) Gütersloh 2006;

Dies ist ein voluminöser Band von knapp 900 Seiten, der ein wahrlich aktuelles und gesellschaftlich sehr bedeut-
sames Thema von sehr verschiedenen Perspektiven aus aufgreift. Dabei ist dieser Band zwar aufgrund eines gro-
ßen wissenschaftlichen Kongresses entstanden; da sämtliche Beiträge des Kongresses aber für den Druck über-
arbeitet und zum Teil erheblich erweitert wurden, so der Herausgeber im Vorwort, stellt der Band "keine Kon-
gressdokumentation im herkömmlichen Sinne dar, sondern einen thematisch ausgerichteten Diskussionsband von
eigenem Gewicht" (13). In der Tat braucht die Themenwahl aufgrund ihrer Aktualität nicht eigens begründet zu
werden; und es ist dem Herausgeber sicher auch darin zuzustimmen, dass unter anderem das brennende Thema
des Verhältnisses von Religion und Gewalt deutlich macht, welche gesellschaftliche Bedeutung und Notwendig-
keit nach wie vor der Theologie eignet - sofern sie dazu bereit ist, sich den brennenden Themen der Zeit in offe-
nem und ehrlichem Diskurs zu stellen. So sind es drei Fragen, die bei der Vorbereitung des Kongresses im Blick-
punkt standen und deshalb auch den Hintergrund für den vorliegenden Band bilden: (1) die "Aufgabe der Auf-
klärung: In welchem Sinne kann Religion als Ursache für politisch gemeinte Gewalt angesehen werden?" (2) die
"Frage des konstruktiven Beitrags von Religion: Was können religiöse Überzeugungen oder Bindungen beitra-
gen zu einer Zähmung von Gewalt und zu einer friedlichen Politik?", sowie (3) "der Beitrag der Theologie: Wel-
che analytischen und konstruktiven Perspektiven bietet die wissenschaftliche Theologie zur Aufklärung von Ursa-
chen von Gewalt und zur Entwicklung von Möglichkeiten, Gewalt einzudämmen?" (14). Angesprochen, so betont
der Herausgeber zu Recht, sind hierzu alle Fächer der Theologie, ja auch der interdisziplinäre Austausch mit nicht-
theologischen Fachgebieten erscheint bedeutsam, um den angesprochenen Fragen nachzugehen. Gegliedert ist der
Band in zwei unterschiedlich umfangreiche Teile.

Der ERSTE, weniger umfangreiche, TEIL enthält unter der Überschrift "Hauptvorträge" immerhin zwölf
Beiträge von zum Teil recht prominenten Autoren und Autorinnen. So formulieren gleich eingangs GESINE
SCHWAN und WOLFGANG HUBER "Erwartungen an den Kongress", ERICH ZENGER greift erneut die
populär gewordene Jan-Assmann-These von der Gewalt produzierenden "Mosaischen Unterscheidung"
auf, die da sagt, den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam "seien gerade wegen
ihres monotheistischen Gotteskonzepts und wegen des damit verbundenen Wahrheitsanspruchs die Intoleranz
und Gewalttätigkeit inhärent" (35), und hält dieser These entgegen, "dass der universale Wahrheitsanspruch
des biblischen Ein-Gott-Glaubens an die Stelle von Zwang und Gewalt die freie Zustimmung setzt, weil dieser
Gott zuallererst ein befreiender Gott ist und weil er als solcher einen auf Gotteserkenntnis gegründeten Gottes-
glauben will" (41). Aus diesem Grunde sei es grade der Kern der mosaischen Unterscheidung, durch die Er-
kenntnis und Verteidigung der Wahrheit faktische Gewalttätigkeit auszuschließen. - STEFAN SCHREINER
behandelt in einem weiteren, hier exemplarisch herausgegriffenen Beitrag, die Frage, ob es friedfertige und
gewalttätige Religionen gibt, und kommt zu dem - kaum überraschenden - Ergebnis: "Nicht die Religionen
an sich sind es, die friedfertig oder gewalttätig sind. Vielmehr erlauben sie alle gleichermaßen, dass sie instru-
mentalisiert und damit als friedfertig ebenso wie als gewalttätig wahrgenommen werden" (135). - In einem
Beitrag zum Thema „’Östliche’ Religionen und Gewalt“ macht MICHAEL BERGUNDER eingangs deut-
lich, dass die heute durch Assmann, Marquard, Walser und andere vertretene These von der tendenziellen Ge-
waltbereitschaft und -inhärenz des Monotheismus sowie der Toleranz und Friedfertigkeit polytheistischer Po-
sitionen bereits Jahrhunderte alt ist und bereits von David Hume (1711-1776) so propagiert wurde. Die These
überdies, dass die sogenannten östlichen Religionen (Buddhismus und Hinduismus) prinzipiell weniger der Ge-
walt zugeneigt seien als die drei monotheistischen Religionen, müsse ebenfalls mit Vorsicht betrachtet werden,
da die Wahrnehmung der östlichen Religionen im Westen aufgrund kolonialer und postkolonialer Globalisie-
rungsprozesse verzerrt sei.

Der ZWEITE, besonders umfangreiche, TEIL enthält unter der Überschrift "Fachgruppenveranstaltungen"
über 30 Beiträge aus zahlreichen Fachgruppen des Kongresses. Hierbei diskutiert z.B. WALTER DIETRICH
Situationen und Bedingungen, in bzw. nach denen im Alten Testament Gewaltanwendung als legitimiert gilt
oder aber zumindest ambivalent bewertet wird. Für den Zusammenhang des Neuen Testamentes erläutert z.B.
MARKUS ÖHLER die kollektiv durchgeführte Strafe der Steinigung als einer besonders drastischen Gewalt-
tat und in diesem Zusammenhang die versuchten Steinigungen Jesu, wie sie Joh 8 und 10 erzählt werden. In
der Apokalyptik, so DAVID HELLHOLM ist die Gewalt gar ein konstitutives Phänomen des Fortgangs der
Geschichte sowie gerade auch des Kampfes mit den bösen Mächten. Ob und inwieweit das Jesusbild in den
Evangelien gewaltfrei ist, diskutiert ANDREAS LINDEMANN; und er kommt zu dem Ergebnis, dass "Jesus
bei seinem Auftreten und in seiner Verkündigung den Menschen nicht selten mit Gewalt gedroht (hat) bzw....
tatsächlich geschehene Gewalt- und Kriegshandlungen auf den Willen und das Handeln Gottes zurückgeführt"
hat (468). FRIEDHELM HARTENSTEIN betont demgegenüber "Jesu Praxis und seine Forderungen des Ge-
waltverzichts als Besonderheiten" und führt diese auf die "Vorstellung einer von Gott allein herbeigeführten
heilvollen Herrschaft" zurück (478). Gleichwohl, so erläutert KLAUS FITSCHEN, gibt es in der Kirchenge-
schichte auch Beispiele - z.B. die radikale Reformation eines Thomas Müntzer oder die Kriegspredigt des Er-
sten Weltkriegs -, in denen "Menschen tatsächlich daran gingen, das in den Evangelien steckende Gewaltpoten-
tial für ihre Zwecke zu nutzen, wobei es immer nur ein Motiv unter mehreren war" (485). Wichtiges Fazit ist:
"In jedem Fall belehrt der Befund darüber, dass sich das Gewaltpotential des Christentums nicht allein anhand
von Bibelstellen einschätzen lässt, sondern deren Rezeption in historischen Kontexten und die Stellung des Chris-
tentums unter den jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen überhaupt für eine Beurteilung
im Vordergrund stehen muss" (485).

In der kirchenhistorischen Abteilung zeigen RUDOLF LEEB am Beispiel der Gegenreformation in Innerös-
terreich sowie MARTIN OHST am Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt im England Mitte des 16.
Jh.s Gewaltpotentiale in den christlichen Kirchen auf, bevor MARTIN FRIEDRICH Friedenskonzepte des
17. Jahrhunderts vorstellt. Bedeutsam ist die Tradition der Vorstellung eines christlichen Friedensreiches,
die mit der "Reichseschatologie" eines Euseb von Caesarea und dem Konstantinischen Imperium anhebt, dann
aber - wie MICHAEL KLEIN und ANGELIKA DÖRFLER-DIERKEN darstellen - auf interessante Weise
in Friedenskonzeptionen im Nachkriegsdeutschland des 20. Jahrhunderts gespiegelt werden. In der systema-
tischen Abteilung nimmt PETER STEINACKER das islamische Kopftuch in den Blick und erläutert an die-
sem Beispiel die Notwendigkeit eines neuen Diskurses über eine solche Religionsfreiheit und religiöse Tole-
ranz, die tatsächlich die freie religiöse Entfaltung aller nachhaltig gewährleistet. FRIEDRICH LOHMANN
diskutiert das Verhältnis von Staat und Religion in den USA und kommt hierbei zu dem überraschenden Er-
gebnis, dass die USA und Europa sich in der Frage dieses Verhältnisses näher sind "als auf beiden Seiten des
Atlantik z. Zt. meist gedacht" (707). Leider erläutert er aber gerade nicht, wieso dies in den USA zu andau-
ernden weltweit organisierten militärischen Gewaltakten führt.

Aus der Perspektive praktischer Theologie setzt sich ROLF SCHIEDER mit dem Spätwerk Michel Foucaults
auseinander, wendet - unbesehen und ungerechtfertigt - die Frage nach Gewalt zur Frage nach der Macht und
betont, dass es in Bezug hierauf - wie beim Beton - lediglich darauf ankomme, "wie man sie produktiv einsetzt",
was immer das dann auch heißen mag. Auf paradoxe Weise - und auf den Spuren einer "felix culpa" (?) - er-
läutert MICHAEL ZINGANEL das Verbrechen als "gesellschaftliche Produktivkraft"; HANS-MARTIN GUT-
MANN beschäftigt sich in einem sehr anschaulich geschriebenen Beitrag mit der aus kirchlicher Sicht ange-
messenen Reaktion auf Gewaltkrisen und erkennt eine "Aufklärungs-"strategie als bedeutsam, in deren Ablauf
eine Solidarisierung mit dem jeweiligen Opfer sehr wesentlich ist und zur Auflösung der Krise beitragen kön-
ne. Aus soziologischer Perspektive beschreibt EBERHARD HAUSCHILDT religiös motivierte Gewaltakte als
religiöse Gruppenphänome, die notwendigerwiese eine sog. "totale Gruppe" voraussetzen, d.h. eine Gruppe,
die "sämtliche Primärfunktionen übernimmt und damit das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung ausschließ-
lich" innerhalb dieser Gruppe stillt (770). ANDREAS NEHRING diskutiert unter religionswissenschaftlicher
Perspektive das grundsätzliche Verhältnis von Religion und Gewalt, schickt aber voraus, dass er "keine positi-
ve Antwort auf die Frage geben kann, wie Religion und Gewalt aufeinander bezogen sind", sondern lediglich
einige "Problembereiche aufzeigen (will), in die sich die religionswissenschaftliche Analyse immer wieder ver-
strickt, wenn sie in die Debatte um Religion und Gewalt eintritt" (811). Hierbei kommen Girard, erneut Ass-
mann, Derrida und andere zur Darstellung. Erst fast ganz zum Schluss des Buches kommt ANDREAS FELDT-
KELLER auf jenen - aufgrund von Genderdebatten heute unvermeidlichen - Zusammenhang zu sprechen, der
ja manchen fast der wichtigste zu sein scheint: Männer bzw. "Gewalt und Gewaltlosigkeit als Männlichkeitside-
ale im interrreligiösen Vergleich". Politisch derzeit kaum korrekt dürfte sein Ergebnis sein, dass bei den von
ihm untersuchten Beispielen nicht nur Gewaltausübung sondern auch Gewaltlosigkeit als Ideale aufscheinen, die
von Männern in unterschiedlichen Kontexten erstrebt werden.

Im Ganzen gibt das Buch einen ausgesprochen vielfältigen Einblick in das Beziehungssystem "Gewalt - Gesell-
schaft - Religion". Weitgehend stehen die Beiträge jedoch jeweils für sich; eine sie durchziehende Linie - so sie
denn bei einer solchen Vielfalt von Beiträgen hätte überhaupt gefunden werden können - ist offenbar weder an-
gestrebt noch erkennbar. Gleichwohl dürfte das Buch als Fundgrube all denjenigen nützlich sein, die sich über
einzelne Aspekte aus dem genannten breiten Themengebiet informieren wollen.

Herbert Frohnhofen, 11. Juli 2007