J. FIGL (Hg.), Handbuch
Religionswissenschaft. Religio-
nen und ihre zentralen Themen, Innsbruck-Göttingen
2003;
"Das spezifische Anliegen des vorliegenden Handbuches",
so informiert der Herausgeber im Vorwort, "ist es,
die Darstellung der Religionen in Geschichte und Gegenwart eng mit
den Informationen über zentrale religio-
nenübergreifende Themen zu verbinden" (8). Hiermit sei das
vorliegende Handbuch singulär auf dem derzeiti-
gen Buchmarkt im deutsprachigen Raum. Um der geplanten Verbindung von
religionshistorischen und -syste-
matischen Gesichtspunkten bestmöglich zu entsprechen, sei von Beginn
an eine zweiphasige Erstellung des Bu-
ches ins Auge gefasst worden, so dass jene Texte, die - den ersten Teil
des Buches bildend - historisch über das
Vorkommen und die Wesenszüge einzelner Religionen informieren,
beim Verfassen der systematisch-verglei-
chenden Artikel des zweiten Teiles bereits Verwendung finden konnten.
Beiden Hauptteilen des Buches voran-
gestellt wurde überdies ein vom Herausgeber verfasstes ausführliches
Einleitungskapitel zum Verständnis und
Anliegen der Religionswissenschaft überhaupt, so dass insgesamt
in der Tat ein höchst beeindruckendes und in-
haltlich umfassendes Handbuch der Religionswissenschaft mit annähernd
900 Buchseiten entstanden ist.
In der EINLEITUNG informiert der Herausgeber
zunächst über die Geschichte der Disziplin "Religionsge-
schichte" bzw. "Religionswissenschaft". Die wissenschaftstheoretische
Grundlegung des Faches geschah vor
allem durch JOACHIM WACH (1898-1955), der sowohl die bis heute akzeptierte
Zweigliedrigkeit des Fa-
ches (Religionsgeschichte und Religionssystematik) als auch seine
empirische Orientierung vertrat. Wohl
unter dem Einfluss Husserls entsteht im 20. Jahrhundert die Religionsphänomenologie,
welche jedoch nach
erheblicher Kritik seit ca. 1970 als vorherrschendes Paradigma abgelöst
wird. Seitdem wird - durchaus unter
Einbezug verschiedener anderer Wissenschaften als Hilfswissenschaften
und auch des Wissens um das Einge-
bettetsein von Religionen in Kulturen - nach der Etablierung einer neuen
Religionswissenschaft gesucht, die
sich bewusst als theoretisch fundiert versteht. Daran anschließend
erläutert F. den inneren Aufbau der Re-
ligionswissenschaft, ihre Gliederung, Methoden und Teildisziplinen.
Hierbei wird insbesondere betont,
dass das Verhältnis zur Religionsphilosophie weithin ungeklärt
ist, während die Abgrenzung zur Theologie,
als der Reflexion einer einzelnen Religion "von innen" relativ
gut gelingt. Abschließend steht in diesem ein-
leitenden Kapitel der Religionsbegriff selbst zur Diskussion; denn
schließlich geht es damit darum, was das
Materialobjekt der Religionswissenschaft ist. Nach einer eingehenden Darlegung
und Diskussion traditionel-
ler und gegenwärtiger Definitionsversuche des Begriffs, die im wesentlichen
als substantialistisch und funk-
tionalistisch orientierte unterschieden werden, sieht F. das herausragende
Charakteristikum von Religionen
darin begründet, dass es in ihnen "um Erfahrungen geht, die die
gewöhnliche (alltägliche) Erfahrungswelt
transzendieren und als solche in einer letzten Bedeutsamkeit (ultimate
concern) erlebt werden" (76). Da sol-
che Erfahrungen aber sowohl auf explizite Religionen bezogen sein als
auch in unspezifischer Weise vorkom-
men könnten ("explizite" und "implizite" Religiosität),
müsse beides Gegenstand der Religionswissenschaft sein.
Der sehr umfangreiche ERSTE TEIL des Buches
gibt einen Überblick über diverse Religionen der Religions-
geschichte, ohne freilich nur annähernd eine vollständige
Darstellung aller bekannten Religionen anstreben zu
wollen. Dabei wurde eine Auswahl vorgenommen, mit der "ein Einblick
in die Struktur bedeutender Religio-
nen der Geschichte und der Gegenwart vermittelt werden" und "im
Gesamtbereich der Religionsgeschichte...
entscheidende Formen der Religion dargestellt werden" sollen (82).
Bei aller Problematik dieser Einteilung
wird des näheren auf klassische Weise differenziert zwischen "Religionen
vergangener Kulturen" und "Reli-
gionen der Gegenwart". Hinsichtlich der Darstellung der
Religionen "der Urgeschichte" macht OTTO H. UR-
BAN eingangs auf die hiermit verbundenen methodischen Probleme aufmerksam:
Was sind eigentlich Religi-
onen? Was sind zuverlässige Zeugnisse von Religionen? Der Begriff
"Religion" selbst (lat. religio - Gottes-
furcht) ist bekanntlich in seiner Herkunft umstritten: Ob freilich von
religare (verbinden -Augustinus, quant.
animae 36,80) oder relegere (sorgsam beachten - Cicero, nat. deorum 2,72)
abgeleitet; in jedem Fall benennt
der Begriff die Bezogenheit auf eine Gottheit bzw. Götterwelt und
ist damit - so Urban - eo ipso ein Begriff,
der "nur aus der abendländischen Sicht verstanden werden"
kann, "das heißt aus der Sicht der jüdisch-christ-
lichen Traditionen und den vorchristlichen Religionen" (88). Zusammenfassend
hält Urban fest, "dass wohl
mit der Entstehung des Homo sapiens - archäologisch fassbar vor
rund 40.000 Jahren - auch ein Selbstbewusst-
sein vorhanden ist, das religiöse Vorstellungen nicht nur ermöglicht,
sondern erfordert. Diese führen zu unter-
schiedlichsten Riten, deren Niederschlag sich in den Funden und Bildwerken
erahnen lässt" (101). Im einzel-
nen werden sodann 11 Religionen aus vergangenen Kulturen sowie in 14 Kapiteln
Religionen der Gegenwart
(einschließlich sog. "neuer Religionen" und "Alternativen
Formen des Religiösen" bis hin zur Religion als The-
ma in Internet, Film und Fernsehen) beschrieben.
Der ZWEITE TEIL des Buches sucht einen systematischen
und vergleichenden Zugang und behandelt dem-
entsprechend zentrale Themen der bzw. in den Religionen. In einem
ersten Kapitel geht es dabei um die
Vorstellungen absoluter bzw. göttlicher Wirklichkeit. BIRGIT
HELLER diskutiert unterschiedliche For-
men des Gottesglaubens und stellt als durchgehende Gemeinsamkeit die Übermacht,
Allwissenheit und Voll-
kommenheit der Götter gegenüber den Menschen heraus. Sie sind
oft den Menschen ähnlich und überschrei-
ten doch das menschliche Maß in vielfältiger Hinsicht; gerade
deshalb ist das Verhältnis der Menschen zu ih-
nen asymmetrisch; die Menschen fühlen sich ihnen unterlegen wie Kinder,
aber oft auch gerade deshalb bei
ihnen sehr geborgen. Häufig werden die Gottheiten mit bestimmten Naturphänomenen
identifiziert; die "al-
te Hypothese, dass die Verehrung göttlicher Wesen überhaupt
erst aus der Personifizierung der Naturmächte
hervorgegangen sei, wird heute (aber) nicht mehr vertreten" (535f).
Das zweite Kapitel ist verschiedenen
zentralen Elementen von Religionen gewidmet. Hier geht es sowohl
um den Mythos, heilige Schriften und
Schöpfungsvorstellungen als auch um Bilder des Jenseits und sog. Zwischenwesen.
Für heilige Schriften, da-
rauf macht UDO TWORUSCHKA aufmerksam, ist nicht nur ihre Bedeutsamkeit
und Verehrung in der jewei-
ligen Religion, sondern oft und gerade auch ihre ausdrückliche Kanonisierung
bedeutsam (589); Schöpfungs-
vorstellungen, so JÜRGEN MOHN, sind ebenso verbreitet wie vielfältig;
und der Begriff steht sowohl für
den Prozess als auch das Ergebnis der von Göttern hervorgerufenen
Weltentstehung (613). Als besonders
schwierig erscheint die Systematisierung von Jenseitsvorstellungen; auffällig
ist allerdings "dass in den Welt-
religionen der ethischen Dimension (im Sinne von Lohn und Vergeltung)
eine zentrale Rolle hinsichtlich des
'Jenseits' zukommt" (647).
Das dritte Kapitel ist sogenannten Praxis-Dimensionen
(Ritual, religiöse Erfahrung und Ethik) gewidmet.
Religöse Rituale werden von HANS GERALD HÖDL als religiöse
Handlungen definiert, "die zu bestimmten
Gelegenheiten in gleicher oder ähnlicher Weise ausgeführt
werden und deren Ablauf durch mündliche oder
schriftliche Tradition festgelegt oder kodifiziert ist. Ihr hervorragendes
äußeres Merkmal ist im Gebrauch kör-
perlicher Ausdrucksformen wie Gesten, Tanz, Worte, Musik und Gesang
zu sehen" (664). Solche Rituale wer-
den in ihrer gesellschaftlich regulierenden Funktion betrachtet und typologisiert
als Übergangsriten, kalenda-
rische Riten, Opferrituale, Riten zur Wende von Not und Bedrängnis
bzw. zur Wiederherstellung der kosmi-
schen Ordnung, als Zeiten von Festen und Fasten sowie schließlich
als politisch bedeutsame Rituale. In Bezug
auf die Ethik in den verschiedenen Religionen geben die Autoren an Hand
von Stichworten (wie z.B. Einä-
scherung, Euthanasie, Homosexualität usw.) eine Übersicht von
einschlägigen Stellungnahmen aus der Sicht
unterschiedlicher Religionen, die höchst interessant und praxisnah
ist, freilich auch sehr knapp ausfallen muss.
Das vierte Kapitel schließlich behandelt gesellschaftliche
und rechtliche Dimensionen der Religionen. Plu-
ralität, Abgrenzungsprobleme und Toleranz innerhalb von Religionen
spielen hier ebenso eine Rolle wie - heu-
te wohl besonders wichtig - die Kategorie "Gender" und das innerreligiöse
Recht bzw. Menschenrecht. Die
Auffassung zu Natur und Technik in den Religionen wird überdies zum
Thema, wie die Religionen-Didaktik
und schließlich der Dialog unter den Religionen.
Im Ganzen wurde ein ausgesprochen informatives, ebenso
den religiösen Traditionen vepflichtetes wie für die
gegenwärtigen Fragestellungen aufgeschlossenes Handbuch zusammengestellt.
Der themenbezogene zweite Teil
ist leider um einiges kürzer ausgefallen als der die einzelnen Religionen
darstellende erste Teil. Dies führt dazu,
dass manche tthematische Darstellung im zweiten Teil allzu knapp ausfällt;
auch die systematische Gliederung
des zweiten Teiles erscheint - vor allem im zweiten und vierten Kapitel
- ein wenig zufällig. Gleichwohl: Gera-
de der zweite Teil ist aufgrund seiner vergleichenden und aktualisierenden
Perspektiven ausgesprochen wertvoll;
die zahlreichen weiterführenden Literaturhinweise am Ende jedes Abschnitts
unterstützen diese Bedeutsamkeit
noch.
Herbert Frohnhofen, 1. April 2007