Johann Gerhard, Exercitium pietatis quotidianum quadripartitum
(1612). Lateinisch-
deutsch, kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort
versehen von
Johann Anselm Steiger (Doctrina et Pietas 12) Stuttgart-Bad Cannstatt
2008;
(mit einem Textanhang: Sämtliche Choräle aus Friedrich Fabricius’
›Praxis Pietatis Gerhardi melica‹ (1688)
Dieses Gebetbuch
Johann Gerhards, eines
bedeutenden Vertreters der lutherischen Orthodoxie, erlebte 86 Auflagen und
Übersetzungen in 13 Sprachen; es erzielte damit eine sehr breite, internationale
und überkon-
fessionelle Wirkung. Die vorliegende, in Leinen gebundene, recht edle Ausgabe
in der wissenschaftlich und ästhetisch herausragenden Reihe >Doctrina
et Pietas< bietet auf gut 200 Seiten den lateinischen Text und ei- ne
zeitgenössische deutsche Übersetzung im Paralleldruck. Sie erschließt
den Text durch textkritische An- merkungen und den Nachweis von Bibelzitaten
sowie von Bezugnahmen auf christlich-antike wie mittelalter- liche theologische
Quellen. In einem >Textanhang<, der selbst noch einmal über 200
Seiten umfasst, werden sämtliche geistlichen Lieder abgedruckt, die
der Stettiner Pastor Friedrich Fabricius (1642–1703) seiner Neuausgabe des
›Exercitium‹ aus dem Jahre 1688 beigegeben hat. Ein weiterer Anhang enthält
Verzeichnisse der der Ausgabe zugrundegelegten Drucke, Listen der vorgenommenen
Emendationen und diverse
Register.
Die Widmungsvorrede des Autors findet wunderbare
Bilder für das Gebet (Gespräch mit Gott, heilsame Arznei
in aller Not, Schlüssel des Himmelreichs, Eröffnung des Paradieses,
Leiter zu Gott, Schild unserer Bewahrung, Schwert wider den Teufel und vieles
Ähnliche). Überraschend ist freilich in diesem Zusammen- hang,
dass das Gebet auch als "Zins" bezeichnet wird, den wir aus "Untertänigkeit
Gott dem Herrn zu geben schuldig sind" (13/Umschrift H.F.). Auf vier
starke und unbewegliche Pfeiler könne unser Gebet sich grün- den:
Gottes allmächtige Barmherzigkeit, seine unfehlbare Wahrheit, des Mittlers
Jesu Christi Vertretung so- wie des Heiligen Geistes Bezeugung. Eingeteilt
sind die Gebete sodann in vier Kapitel, die - so der nicht ge- ringe Anspruch
des Buches - der Christ "täglich betrachten soll" (37).
Der ERSTE TEIL handelt von der "Betrachtung
unserer Sünden". Den Ausgang nimmt Gerhard dazu bei der Erbsünde,
durch die wir uns "manchmal teilhaftig machen der fremden Sünden"
(39). Die Erbsünde, so Gerhard, hat "meine ganze Natur verdorben
und geschwächt, so dass keine meiner Seelenkräfte von dieser Seuche
frei und ledig ist" (39); die Eigenschaft Gottes Ebenbild zu sein, sei
damit verloren; die ganze Natur sei verdorben und verkehrt. Auch die Erneuerung
im Heiligen Geist, die durch die Taufe geschehen ist, habe dies nicht gänzlich
heilen können. Die Jugendsünden sind danach zu betrachten und auch
die täglichen Sün- den, die heute mein Leben prägen. Dem
gegenüber stehen die beiden Tafeln der Zehn Gebote. Meditiert wird sodann,
dass wir uns oft von fremden Sünden anstecken lassen und wie gut es
ist, wenn wir von anderer Seite darauf hingewiesen werden. Gottes Wohltaten
werden aber gegen diese Sünden wirken; insbesondere das Leiden und Sterben
Christi ist von uns in dieser Hinsicht zu betrachten.
Der ZWEITE TEIL betrachtet die "göttlichen
Wohltaten". Durch die Betrachtung der göttlichen Wohlta- ten,
so leitet der Autor bildhaft ein, gehe ein Christ "in den schönen
Lustgarten der Natur und der christli- chen Kirchen gleichsam spazieren"
und sammle "aus demselben mancherlei wohlriechende Blümlein göttli-
cher Gaben", fasse "sie im Gedächtnis zusammen und erlustige
sich im Geist durch deren lieblichen Geruch" (81). Zunächst wird
dann Gott Dank gesagt, dass er uns im Mutterleibe wunderbar geschaffen und
in die Welt gesetzt hat, sodann dass er uns täglich am Leben erhält,
dass er uns durch Christus aus der Sünde erlöst hat, ja dass in
ihm Gott selbst überhaupt Mensch geworden ist. Gedankt wird überdies
für die Leiden Christi, für die Berufung der Gläubigen durch
das göttliche Wort, für Gottes große Geduld, mit welcher
er auf unse- re Bekehrung wartet und für die Bekehrung selbst. Dazu
wird Dank gesagt für die gnädige Vergebung der Sünden, dafür
dass Gott uns im guten Vorsatz erhält, für alle Güter des
Leibes und der Seele, für die Sakra- mente der Taufe und des Abendmahls,
für die Abwendung allerlei Unglücks sowie schließlich für
die Ver-
heißung der ewigen Seligkeit. So ist dieser Teil der umfänglichste
der Gebetssammlung; dicht gefolgt aller- dings vom
DRITTEN TEIL, in dem unsere eigene Bedürftigkeit
meditativ reflektiert wird. Hier sollen wir in den Mittelpunkt unserer Betrachtung
stellen, "dass wir alles Vertrauen auf unsere eigenen Kräfte ablegen
und al- lein zur gnädigen Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit
fliehen sollen, die uns in Christus verheißen wurde" (147). Hochmodern
ist die These, dass es gerade diese unsere vielfältige Bedürftigkeit
ist, die "unser Herz zu Gott aufrichtet", so dass der alte Mensch
getötet werden und der neue Mensch entstehen kann, der geprägt
ist von Glaube, Hoffnung, Liebe, Demut, Geduld, Sanftmut, Keuschheit und
anderen Tugenden, die alle "mit ernstem Gebet von Gott erbeten und erlangt
werden" müssen (147). Gebetet wird sodann im einzelnen für
die Tötung des alten Menschen, der unter dem Gesetz der Sünde steht,
um Erhaltung und Vermehrung des Gebe- tes, der Hoffnung, der Liebe, der Demut,
der Geduld, der Sanftmut, der Keuschheit, der Verschmähung alles Irdischen,
der Selbstverleugnung, des Sieges gegen die Welt, um beständigen Trost
aus dem Kreuz, um wahrhaftige Ruhe der Seelen, um Bewahrung vor des Teufels
List sowie um einen seligen Abschied aus die- sem Leben und um eine fröhliche
Auferstehung zum ewigen Leben.
Der VIERTE TEIL schließlich ist der Betrachtung
der Bedürftigkeit unseres Nächsten, sprich der Caritas,
gewidmet. Hierdurch "sieht ein Christ auf den gemeinen Nutzen der Kirchen
und der weltlichen Politik, er nimmt sich aus gebührendem Mitleiden
der Not des Nächsten an, als wenn es seine eigene Not wäre"
(211). Überdies: "Wer ein wahres lebendiges Glied der Kirche ist",
so heißt es, "wird täglich beten für die Erhal- tung des
göttlichen Wortes, für Lehrer und Zuhörer, für Obrigkeit
und Untertanen und für den Hausstand" (211). Denn dieses seien die
drei Hauptstände, welche Gott selbst zur Erhaltung des Lebens und zur
Ausbrei- tung der Kirche eingesetzt habe. Dazu müsse der Christ beten
für seine Verwandten und Wohltäter, für seine Feinde und Verfolger,
"deren Bekehrung und Seligkeit er von Herzen suchen soll" (211) sowie
für andere notleidende und bekümmerte Menschen, die ihn zum Mitleid
bewegen. Im einzelnen sind die Gebete dann gewidmet: der Erhaltung des göttlichen
Wortes und Erweiterung der christlichen Kirchen, den Lehrern der Kirche und
ihren Zuhörern, der Obrigkeit und den Untertanen, dem Hausstand, den
Verwandten und Wohl- tätern, für die Feinde und Verfolger und für
alle Notleidenden und Geängstigten.
Die im ANHANG abgedruckten Choräle zu jedem
dieser Gebete wurden vom Stettiner Pastor Friedrich Fa- bricius in einer
anderthalb Jahre andauernden Haftzeit verfasst, über die er selbst in
einem kurzen Vorwort schreibt. In dieser beschwerlichsten Zeit seines Lebens,
in der er nicht nur auf sein Amt verzichten musste, sondern nicht einmal
eine Kirche aufsuchen durfte, hätten ihn die Gebete Johann Gerhards
aufgerichtet und getröstet. Seine eigene Not sei in die Choräle
eingeflossen; der Wortlaut der Gebete wurde aber - so gut es ging - beibehalten.
- Im Ganzen ist dies ein höchst beeindruckendes Buch. Es zeigt auf,
dass in der Spur etwa der "Geistlichen Übungen" des Ignatius
von Loyola oder - viel früher - der "Nachahmung Christi" eines
Thomas von Kempen noch geistliche Übungsbücher (auch in der protestantischen
Konfession) entstanden, die nicht nur große Bedeutung erlangten, sondern
auch heute intensive Beachtung verdienen.
Herbert Frohnhofen, 1. April 2008