Urs Thurnherr/Anton Hügli (Hgg.), Lexikon Existen-
zialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt 2007;

"Ziel dieses Lexikons ist es", so schreiben die Herausgeber im Vorwort, "die heute zunehmend wieder ak-
tuell werdenden Strömungen der Existenzphilosophie und des Existenzialismus von ihren Grundbegriffen
her zu erschließen" (7). Aufgenommen wurden deshalb in das rund 350 Seiten starke Buch solche "Arti-
kelstichwörter, die für diese Strömungen insgesamt oder doch zumindest für einzelne ihrer führenden Ver-
treter relevant sind" (7). Natürlich wird keine Vollständigkeit angestrebt, sondern eine repräsentative Aus-
wahl. Bemerkenswert ist das Ziel, mit dem Inhalt der jeweiligen Artikel "so nahe wie möglich an den (ein-
schlägigen philosophischen) Texten zu bleiben und an die Texte selber heranzuführen. Dies", so beanspru-
chen die Herausgeber, "ist ein Vorzug, der dieses Werk von allen anderen auf dem Markt erhältlichen ver-
gleichbaren Lexika und Handbüchern insbesondere aus dem angelsächsischen Raum unterscheidet" (7).
Die einzelnen Artikel sollen den jeweiligen Begriff (i) zunächst erläutern, (ii) sodann ggf. in der Geschich-
te der Philosophie situieren sowie (iii) schließlich die wesentlichen Fragen behandeln, die sich mit dem be-
treffenden Ausdruck verbinden oder verbunden haben. Dabei soll der Hauptfokus auf der Rekonstruktion
der unterschiedlichen Verwendungsarten und der historischen Entwicklung des jeweiligen Begriffs im
Kontext der Existenzphilosophie und des Existenzialismus und der jeweiligen Diskussionszusammenhän-
ge liegen. Auch die Wirkungsgeschichte der Begriffe in andere philosophische Kontexte hinein soll Beach-
tung finden.

Bevor freilich im Buch die alphabetisch sortierte Übersicht der verschiedenen Artikel beginnt, diskutiert Urs Thurnherr die Begriffe "Existenzphilosophie" und "Existenzialismus" selbst im Sinne der Darstellung ei-
ner "kurzen Geschichte 'eines' Etiketts" (9-17). Hierbei macht er eingangs darauf aufmerksam, dass mit die-
sen Begriffen nicht eine fest umrissene philosophische Richtung oder Schule bezeichnet wird, sondern dass
sie als Etikett dienen, um dem Begreifen der Philosophie des 20. Jahrhunderts zur besseren Orientierung zu
dienen. Gleichwohl oder gerade deshalb seien sie zum Ausdruck des Anliegens der jeweils subsumierten
Philosophien nicht immer sehr geeignet. Erstmals sei der Ausdruck "Existenzphilosophie" von Fritz Heine-
mann im Jahr 1929 verwendet worden, und zwar - nach eigenen Worten - mit dem Anspruch, hiermit eine
neue philosophische Richtung zu bezeichnen, "die darauf abzielt, die Einseitigkeit sowohl der rationalisti-
schen we auch der irrationalistischen Philosophie zu überwinden" (9). Mit dem Wort "Existenzialismus"
hingegen, das wohl von Karl Jaspers geprägt wurde, meint dieser eine "verarmende Reduzierung des Ex-
istenzbegriffs,... (die) lediglich noch 'die sinnlose Tatsächlichkeit bloßen Daseins' meint" (10). Heute frei-
lich werden beide Begriffe oft synonym verwendet, "Existenzialismus" häufiger für entsprechende philoso-
phische Strömungen in den romanischen, "Existenzphilosophie" öfter in den deutschsprachigen Ländern.
Das Gemeinsame der zahlreichen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die heute mittels dieser Begrifflichkeit
etikettiert werden, sieht Thurnherr darin, dass sich alle diese Denker von der traditionellen Metahysik bzw.
Wesensphilosophie abwenden und sich - mehr oder weniger explizit - auf Sören Kierkegaard beziehen. Grundlegend ist die von Jean Paul Sartre formulierte und zum Selbst-Konstruktivismus einladende Parole:
"Die Existenz geht der Essenz, dem Wesen, voraus" (12). Schauen wir beipielhaft die Ausarbeitungen zu
einigen der bearbeiteten Begriffe an:

Mit gut viereinhalb Seiten ist die Besprechung des Artikels "Entfremdung" von MICHAEL GROßHEIM überdurchschnittlich lang. Entfremdung im existenzialistischen Kontext - so heißt es hier - entstehe durch Rückzug; "sie ist eine als beängstigend erfahrene Abstandnahme von sich selbst und der Welt, eine Ver- gleichgültigung von Bedeutsamkeitsbezügen" (63). Die Essenz entfremde sich von der Existenz; dies hin-
terlasse ein Gefühl von Heimatlosigkeit. Grundlage der Möglichkeit solcher Entfremdung sei die von Fich-
te beschriebene Tatsache, dass das menschliche Selbstbewusstsein es zulässt, die eigenen Erfahrungen mit
Distanz zu betrachten, so dass sie uns auch - wie Musil herausstellt - fremd vorkommen und werden kön-
nen. Hierdurch ist es mir möglich, - sicherlich gestützt durch die modernen Massenmedien - zum Zuschau-
er einer Welt zu werden, in die ich mich nurmehr in abgestufter Weise hineinziehen lasse. Je mehr ich mich
aber diesem verweigere, desto entfremdeter werde ich der Welt. Dies alles wird nun an Textbeispielen von
Jaspers über Heidegger bis hin zu Sartre und Camus detalliert erläutert. Der christliche Märtyrer Alfred Delp
erklärt 1935 die "geistige Heimatlosigkeit des europäischen und besonders des deutschen Menschen von heu-
te" zur Grundlage der sich ausbildenden verheerenden Geistigkeit der Zeit.

Der von KRISTIN KAUFMANN erarbeitete Artikel "Ewigkeit" hat mit knapp zwei Seiten durchschnittli-
chen Umfang, stellt zu Beginn verschiedene gängige Verständnisse des Begriffs vor und behauptet dann -
sehr zu Unrecht -, dass "Ewigkeit und Gott in diesem Zusammenhang (gemeint ist ein religiöser bzw. meta-
physischer) meist synonym verwendet" würden. Angemessener ist da schon die gleich anschließende Aussa-
ge, dass "Ewigkeit... eine Eigenschaft Gottes (ist), wobei Gott nicht als unendliche Dauer, sondern überzeit-
lich bzw. nichtzeitlich gedacht ist, ohne Anfang und Ende. Hierbei ist Ewigkeit nicht der Gegenbegriff zur
Zeit im Sinne von deren Ausschließung, sondern beinhaltet die Zeit" (85). Der Artikel besteht im weiteren
daraus, dass die Lehren zur Ewigkeit von Kierkegaard über Nietzsche, Jaspers, Heidegger und Camus bis
hin zu Cioran und Sliogeris kurz zitiert und - weitgehend ohne einen Zusammenhang zwischen diesen her-
zustellen - erläutert werden; gleichwohl wird für die Lesenden sehr deutlich, dass das jeweils zum Ewigen
eingenommene Verhältnis des Menschen für sein Lebensglück wohl mit das Wichtigste ist.

Der Artikel "Mensch" hat einen Umfang von fast fünf Seiten und wurde von THEDA REHBOCK ver-
fasst. Sie verweist darauf, dass es "das Hauptanliegen der Existenzphilosophie bzw. des Existenzialismus
(sei), die Frage nach dem Menschen neu ins Zentrum des philosophischen Denkens zu stellen" (170). Dies
geschieht wesentlich "in Reaktion auf die Bedrohung des Menschen als Individuum... durch die wissen-
schaftlich-technischen, ökonomisch-industriellen und politisch-gesellschaftlich Entwicklungen der Moder-
ne" (171). Prägend für die weitere Existenzphilosophie ist auch hier Kierkegaards Analyse, dass der Mensch
in der Moderne drohe zum reinen Objekt eines sich als wissenschaftlich verstehenden Denkens zu werden;
diesem korrespondiere die subjektivistische Vereinzelung und Entfremdung des Subjekts in einer ästhetischen
Lebensform, die "im Streben nach Freiheit und reinem Selbstgenuss in Abhängigkeit und Verzweiflung ge-
rät" (171). Jaspers und vor allem Heidegger werden ausführlich in ihrer Bezugnahme hierauf dargestellt.

Im Ganzen gibt das Werk eine grundlegende Einführung zur Existenzphilosophie nach Stichworten. Die
Bezugnahme auf die einzelnen existenzphilosophischen Autoren ist direkt und genau, so dass - gerade auf-
grund der Lektüre mehrerer verschiedener Artikel - auch eine Einführung in das jeweilige Werk der Exis-
tenzphilosophen zu gewinnen ist. Der Band schließt mit einer umfangreichen Bibliographie, die nach ver-
schiedenen Gesichtspunkten sehr benutzerfreundlich differenziert ist, und einem Verzeichnis der Autoren
und Autorinnen. Allein eines - an sich sehr Selbstverständliches - fehlt: Ein Inhaltsverzeichnis, das die be- arbeiteten Begriffe mit den jeweiligen Seitenzahlen aufführt, damit diese im Überblick vor Augen liegen
und schnell aufzufinden sind.

Herbert Frohnhofen, 11. November 2007