Karl Popper, Frühe Schriften, hg.v. Troels Eggers Hansen
(Gesammelte Werke in deutscher Sprache I) Tübingen 2006;

Dieser erste Band einer neuen, aufwändig gestalteten Sammlung der Schriften des bekannten österreichisch- britischen Philosophen Karl Popper versammelt - so der Herausgeber in seinem Nachwort (509ff) - alle er- haltenen Werke, die der Autor in seiner Wiener Zeit vor Januar 1937 schrieb, und zwar solche, die zur Ver- öffentlichung bestimmt waren ebenso wie jene, die der Autor zu Prüfungs- oder anderen Zwecken verfasste. Ihre Entstehung erstreckt sich damit über einen Zeitraum (ab 1925), in welchem der Autor - für einen sehr bekannt gewordenen Philosophen selten genug - nicht nur eine Gesellenprüfung als Tischler abgelegt hatte, als "Horterzieher" arbeitete, am Pädagogischen Institut der Stadt Wien studierte sowie dann als Hauptschul- lehrer fungierte, sondern ebenso noch seine berühmte Schrift >Logik der Forschung< veröffentlichte und mit den führenden Naturwissenschaftlern seiner Zeit (Heisenberg, v. Weizsäcker, Einstein u.a.) korrespondierte. Als Anhang sind den >Frühen Schriften< "einige Seiten beigefügt, die Popper im Sommer 1970 über die 'Wiener Schulreform' und deren Einfluß auf seine Philosophie schrieb; sie enthalten auch Informationen über seine frühe Zeit in Wien" (510). Die philosophische "Revolution" Poppers, so der Herausgeber, findet in den hier gesammelten frühen Schriften aber noch nicht statt; sie beschäftigen sich mit Fragen der Erziehung, der Psychologie, der Geometrie, der Quantenmechanik und - immerhin bereits - der Erkenntnistheorie.

Poppers Schriften über die Erziehung entstanden im Zusammenhang seines Studiums am Pädagogischen In- stitut bzw. in der Zeit seiner anschließenden Hauptschullehrertätigkeit. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis wird traktiert, ebenso die Bedeutung der Heimat für den Menschen sowie Fragen der Gedächtnispflege. Von be- sonderem Fleiß zeugt eine "Pädagogische Zeitschriftenschau", die nicht weniger als 257 - teils sehr knappe - Zusammenfassungen von ausgewählten Aufsätzen in 74 Zeitschriften enthält. Zur Psychologie äußert P. sich vor allem in seiner 1928 an der Universität Wien eingereichten Doktor-Dissertation. Hierin wendet er sich gegen den sogenannten Physikalismus, d.h. - so eine Moritz Schlick zugeschriebenen Behauptung -, "eine 'vollständige', d.h. wissenschaftlich exakte Erkenntnis des Psychischen sei überhaut nur dann möglich, wenn es gelingt, den psychischen Tatsachen... physikalische Begriffe zuzuordnen" (195). Demgegenüber weist Pop- per im Einzelnen auf, dass im Zusammenhang der "Denkpsychologie" die Anwendung dreier weiterer Aspek- te unabdingbar sei ("Benehmensaspekt", "Aspekt der objektiven geistigen Gebilde" und "Erlebnisaspekt"). Poppers Schrift über die Geometrie wurde vermutlich in den Jahren 1928/29 verfasst und von ihm als Ab- schlussarbeit zur Erlangung der Lehrbefähigung für Hauptschulen eingereicht. In dieser Arbeit, die vielleicht die interessanteste des gesamten Bandes ist, stellt P. die Grundlagen der euklidischen Geometrie gut verständ- lich dar, beschäftigt sich mit philosophischen Anfragen hieran, geht sodann zur nichteuklidischen Geometrie über und kommt schließlich noch zu modernen einschlägigen Fragen und Problemstellungen: Die Arbeit er- weist eine tiefgreifende mathematische Kenntnis und überrascht in ihrer Qualität, vor allem hinsichtlich des mit ihr verbundenen Zweckes eine Lehrbefähigung für Hauptschulen zu erhalten.

Am meisten, nämlich gleich sieben Beiträge, sind der Quantenmechanik gewidmet. Hierin setzt P. sich kri- tisch mit der sogenannten Unschärfe- bzw. Ungenauigkeitsrelation auseinander und diskutiert die Möglichkeit von genaueren Orts- und Impulsprognosen für Elementarteilchen unter der Voraussetzung, dass zuverlässige- re Angaben über die Vergangenheit möglich sind. Der letzte Abschnitt enthält vier Beiträge zur Erkenntnis- theorie und damit einzig zur Philosophie im engeren Sinne. Hier befasst P. sich zunächst mit der sogenann- ten Erfahrung, also mit dem jeder exakteren wissenschaftlichen Formulierung notwendiger Weise vorange- henden Versuch, sich "in die Situation einzuleben oder einzufühlen" (459). Als "empirischer Gehalt" einer Theorie wird dabei bereits die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten definiert (464). In weiteren Beiträgen befasst P. sich mit der Prüfbarkeit statistischer Hypothesen. - Im Ganzen gibt die Sammlung einen überra- schenden Einblick in das frühe Schaffen eines sehr berühmten Philosophen, der auf diese Weise in ganz neu- en Perspektiven erkennbar wird.

Herbert Frohnhofen, 11. November 2008