Georg Essen/Magnus Striet
(Hgg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005;
Auch 200 Jahre nach seinem Tod werden Immanuel Kant und
seine Philosophie heftig diskutiert. Zu weitrei-
chend waren seine grundlegende Kritik jeder Metaphysik und aller möglichen
Gottesbeweise, seine transzen-
dental fundierte neuartige Erkenntnislehre sowie seine Idee, ein göttlich
Absolutes einzuführen als regulative
Idee der praktischen Vernunft. Auch bei mir persönlich hat die
Kant'sche Philosophie vor Jahrzehnten viel da-
zu beigetragen, allzu naive Glaubens- und Wissensvorstellungen zurückzulassen
und eine neue Synthese von
Fides und Ratio zu suchen. Das vorliegende Buch - so die Herausgeber
im
Vorwort - sucht sich aus theologi-
scher Perspektive den Herausforderungen der kant'schen Philosophie
zu stellen. Hierbei besteht seine
"Grund-
idee... ausdrücklich nicht in einer Rückschau auf die
Geschichte einer zweihundertjährigen theologischen und
religionsphilosophischen Beschäftigung mit Kant" (10).
Dazu gebe es andere aktuelle Veröffentlichungen. Viel-
mehr solle die Aktualität der Kant'schen Philosophie zur Darstellung
kommen und ihre Bedeutung für die sys-
tematische Theologie unserer Tage. Denn nur zum eigenen Schaden könne
"eine zeitgemäße Theologie das mit
Kant erreichte Problembewusstsein und Reflexionsniveau... unterbieten"
(10). Die einzelnen Beiträge des Sam-
melbandes sollten deshalb "einerseits die mit
Kant einsetzende Diskussion berücksichtigen und andererseits den
von ihm ausgehenden Erkenntnisfortschritt konstruktiv weiterdenken"
(11). Zur Besprechung können hier nur
einige der zehn sehr unterschiedlichen Beiträge heraugegriffen werden.
SASKIA WENDELs Beitrag ist Kants Freiheitsbegriff
gewidmet, der als "nicht naturalisierbar" bezeichnet
und zu erweisen versucht wird. Wie eine Naturalisierung des Freiheitsverständnisses
heute oftmals vorgenom-
men wird, stellt die Autorin eingangs an einem Formulierungsbeispiel
des bekannten Hirnforschers Gerhard
Roth dar. Der Willensakt - so interpretiert sie dies - sei "nicht
frei, sondern durch biologische Vorgänge deter-
miniert" (14). Die Idee der Freiheit sei mithin nach dieser Interpretation
"nichts anderes als eine Illusion der
menschlichen Vernunft" (14). "Der Mensch" - so die Konsequenz
- "wird nicht mehr als singuläres, autonomes
Ich verstanden, sondern als ein durch neurobiologische Prozesse determiniertes
Wesen" (14). Die Autorin stellt
dem in einer ausführlichen Darstellung Kants Verständnis der
Freiheit als eines Postulats der praktischen Ver-
nunft gegenüber und benennt auch kritische Einwände, welche
hiergegen aus philosophischer und theologischer
Perspektive bereits vorgebracht wurden. Abschließend erläutert
sie in fünf Thesen, dass (1) "Religiosität als
die Haltung eines Ich verstanden werden kann, das sich selbst als
verdanktes Subjekt und als verdankte Frei-
heit erkannt hat" (42), (2) das Absolute/Gott als unbedingte,
vollkommene Freiheit zu verstehen sei, "in dem
Subjekt- und Personperspektive zusammen kommen" (42), (3) Schöpfung
zu begreifen sei als "Akt einer unbe-
dingten Freiheit, und dies ex nihilo, also aus sich selbst heraus"
(42), (4) auch das Heilshandeln Gottes weder
"notwendig" sei "noch... vom Menschen erzwungen werden"
kann (43), sondern dem freien Ratschluss Gottes
obliegt sowie (5) auch das menschliche Handeln, "sei es die Lebenspraxis
und Lebensführung im allgemeinen,
sei es die Glaubenspraxis im besonderen" als menschliches Handeln
in Freiheit in der Regel prinzipiell aner-
kannt wird.
MAGNUS STRIET eröffnet seinen Beitrag über die
bleibende
Relevanz und Grenzen von Kants Religions-
philosophie mit einer Erinnerung an Karl Barth und dessen Kritik
an der auf menschliche Autonomie setzen-
den Philosophie Kants:
"Im Hinblick auf ein entscheidendes Schlagwort
der Neuzeit bedeutet dies dann; Auto-
nomie ist einzig und allein Gott vorbehalten, nicht aber dem Menschen"
(163). Gottes Offenbarung vollziehe
sich geradezu als
"Aufhebung einer als Eigenmächtigkeit ausgedeuteten
Autonomie und damit 'als Aufhebung
der Religion'" (163). Demgegenüber impliziert nach Kants Auffassung
"der Offenbarungsglaube... notwendig
eine natürliche Theologie" (164).
"An Kant zu lernen ist"
deshalb nach Str.,
"dass der Glaube in der Instanz der
Vernunft Rechenschaft über seine Vernünftigkeit abzulegen
hat" (164). Und:
"Eine Theologie, die nicht mit der
gleichen Ernsthaftigkeit wahrhaftig sein wollte, unterböte die
Ernsthaftigkeit Kants" (165).
"Gezeigt werden soll",
so Str.,
"dass Kants Projekt, in der Dimension menschlicher Vernunft
dem Wesen von Religion seinen anthro-
pologisch angemessenen Ausdruck zu geben, an Aktualität nichts
eingebüßt hat" (167). Hierzu bespricht Str.
Grundzüge der praktischen Philosophie Kants und erläutert,
"dass
es laut Kant moralisch notwendig ist, Gott
zu postulieren", denn
"nur unter der Voraussetzung eines Gottes,
der die Übereinkunft von Glückswürdigkeit
und Glückseligkeit verbürgt", sei das höchste Gut
(und das dementsprechende Handeln des Menschen) überhaupt
möglich (175). Die bleibende Relevanz einer solchen Postulatenlehre
exemplifiziert Str. sodann an der Unbedingt-
heit, die mit dem oft gesprochenen Satz
"Ich liebe Dich" verbunden
ist, sowie an der Hoffnung auf Ausgleich für
die Opfer der menschlichen Geschichte, welcher - nach
menschlichem Ermessen - nur durch einen Gott gewähr-
leistet werden kann. Gleichwohl - so Str. mit Recht - steht allen kant'schen
Postulaten und jedem kategorischen
Imperativ aus christlicher Perspektive ein "kategorischer Indikativ"
(Gotthard Fuchs) gegenüber, der das liebe-
volle Angenommensein jedes menschlichen Lebens durch Gott vor aller Leistung
"kategorisch" ausspricht.
In einem Beitrag über die Erbsündenlehre nach Kant erläutert
KNUT WENZEL die Erbsündenlehre als den
"denkgeschichtlich geformte(n) Ort schlechthin", den "locus proprius,
den es aufzusuchen gilt, wenn die Frage
nach der Handlungsfähigkeit des Menschen zur Debatte steht"
(230). Kant nimmt die Erbsündenlehre Augustins
auf; auch er spricht "von der durch die erste Sünde geschädigten
Natur" (233). Das Subjekt, dass sich der ge-
schichtlichen Dimension seines Handelns bewusst ist, nimmt "jene Schuld,
die in Handlungen manifest gewor-
den ist, welche dieses Subjekt nicht zu verantworten hat, die es alber
als Bedingungen (seines Handelns) aner-
kennt... als 'fremde Schuld' auf sich" (245). "Dieser bleibende
Fremdheitscharakter im eigenen Handlungsfeld
besagt, dass in diesem Bereich der eigenen Handlungssouveränität
etwas Unzugängliches, Unbearbeitetes, Un-
integrierbares verbleibt" (248). Die Erbsünde verfremdet also
das eigene Handeln, lässt es mir selbst zum Frem-
den werden. Die Aporie der Erbsünde liegt freilich darin, dass nur
wer dies akzeptiert, überhaupt des Handelns
fähig wird.
Bereits an diesen drei beispielhaft vorgestellten Beiträgen
wird deutlich, wie sehr die Beschäftigung mit Kant
und der Beziehung seiner Lehre auf die Theologie nicht museal und allein
philosophiegeschichtlich gearbeitet,
sondern aktuelle Themen der philosphisch theologischen Diskussion angesprochen
und vielleicht sogar beför-
dert werden. Freilich hätte die Nutzbarkeit des Buches noch gesteigert
werden können, wenn die einzelnen Au-
toren und Autorinnen dazu angehalten worden wären, einen - ggf. durch
die Herausgeber vorgegebenen - sys-
tematisch strukturierten Aufbau der jeweiligen Beiträge zu beachten
und hierbei je spezifische Eigenarten (auch
der jeweiligen Fachsprache) und Exkurse ein wenig zurückgedrängt
worden wären.
Herbert Frohnhofen, 21. April 2007