Rainer Adolphi/Jörg Jantzen (Hg.), Das antike Denken in der Philo-
sophie Schellings (Schellingiana 11) Stuttgart-Bad Cannstatt 2004;

Dieses umfangreiche Werk von über 700 Seiten versammelt 27 Beiträge einer Tagung, die der Mitherausge- ber Jörg Jantzen zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Francesco Moiso im Spätsommer 1995 in Mai- land veranstaltet hat, und zwar "als ein gemeinschaftliches Unternehmen der Internationalen Schelling-Ge- sellschaft und des Dipartimento di Filosofia" der Universität Mailand (XXII). Dabei steht das "Gespräch" Schellings mit der Antike im Vordergrund, ein Gespräch, das - so der Anspruch Schellings - "die philosophi- sche Sache" (XI) der Alten allererst hervorbringt und ihren Ausdruck darstellt. Die Antike - einbezogen ist hier auch die christliche Patristik, etwa durch Athanasius und Augustinus - hat für Schelling eine sehr große Bedeutung; nicht immer besteht sein Gespräch hiermit aber "in expliziter Auseinandersetzung und Diskussion, sondern (es) gibt sich auch eher verdeckt zu erkennen" (XI). Betrachten wir beispielhaft einige der Beiträge etwas genauer.

LIDIA PROCESI handelt über den Prolog des Johannesevangeliums in Schellings Philosophie der Of- fenbarung; und es wird erkennbar, wie sehr Schelling die Bedeutung der Inkarnation Gottes in Jesus Chris- tus und auch seines Leidens und Sterben theologisch durchdringt und begreift. Schelling schließt sich dabei der vorherrschenden Lehre der theologischen Tradition an, indem er die Sünde des Menschen als Ursache der Inkarnation des Logos ansieht (344). Die Sünde des Menschen hat ihn des Sinns all seiner Handlungen be- raubt, und es "bleibt (ihm) nichts weiter als das Bewußtsein seiner widersinnigen Ziellosigkeit" (352). Denn Gott selbst verändert sich aufgrund der Sünde der Menschen in seiner Beziehung zu ihm, er "verweigert dem Menschen seine väterliche Potenz, und der Mensch, seiner Sohnesbeziehung beraubt, fühlt die drohende Ver- nichtung hereinbrechen" (351). Vor diesem Hintergrund wird die Inkarnation begriffen als die Annahme ei- ner "Körperlichkeit, die den Menschen zur Fron der Arbeit, zum Geburtsschmerz, zur Schmach des Todes ver- dammt hat" (347). In einer etwas missverständlichen Weise, die die Sündhaftigkeit des Menschen allein auf seine Körperlichkeit zu konzentrieren scheint, erläutert Schelling, dass der Menschensohn Jesus jenen Körper auf sich nehme, "in dem sich jeglicher, von der Sünde geerbter Fluch konzentriert: die Täuschungen der Sin- ne und der Leidenschaften, die Qualen der Krankheiten, die unstillbaren Bedürfnisse" 347). Nur indem der in Jesus Mensch gewordene Logos sodann "bis in die Tiefen des Abgrunds der Verzweiflung des menschlichen Lebens hinabsteigt und er die Widersinnigkeit dessen, ein zur Vernichtung verdammtes Nichts zu sein, (mit) erlebt, ist er der (erlösende) Christus: Sündenbock im Körper und durch den Körper, stirbt er jenen Tod, der den Menschen vernichtet, wenn er fühlt, daß mit seinem Ende auch seine Welt, die stolze Welt des Ichs, en- det, und entdeckt auf diese Weise seine grausame Einsamkeit" (352). - Richtig ist hieran, dass die Inkarnati- on, dass "Hineinkommen" Gottes in den mit der Sünde belasteten menschlichen Körper bedeutet; falsch wäre die Unterstellung, dass sich dieses mit der Sünde Behaftetsein auf den Körper beschränkt, vielmehr ist es die menschliche Natur als ganze, die durch die Sünde beeinträchtigt ist, so dass die Inkarnation Gottes besser als Verbindung Gottes bzw. des göttlichen Logos mit der menschlichen Natur verstanden wird.

Der Mitherausgeber RAINER ADOLPHI beschreibt Schellings spekulative Theorie der Zeit und ihre an- tiken Bezüge. Anfänglich - so Adolphi - versteht Schelling die Zeit wesentlich noch im kantischen Sinne als eine apriorische "Form der Anschauung, eingefügt unter das von Fichte begründete methodische Programm, den Konstituierungsprozeß unseres Ich-Objekte-Verhältnisses... zu rekonstruieren" (358). Zeit wird hier ver- standen als "Bewußtseinsstrom, der fließende Bewußtseins-Punkt bzw. -Ausschnitt unseres empirischen Ich" (358). Später verlagert sich die Deutung auf die platonischen Denkfiguren; Zeit wird nunmehr "nach dem Urbild-Abbild-Schema, dem Begriff(Idee)-Erscheinungs-, dem Ewigkeit-Wandelbarkeits-Schema gefaßt" (359). In beiden Sichtweisen spielt das Moment der Endlichkeit bzw. des Endlich-Seins eine entscheidende Rolle für das Zeitverständnis. Von Augustinus wurde in seiner sog. "Psychologisierung der Zeit" bekanntlich darauf verwiesen, dass die Zeit vor allem in der Seele "ihre eigentliche Wirklichkeit habe"  (362), hierin als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengespannt wird und dass das dieser Welt gegenüberstehende Absolute, die transzendente Gottheit in jedem Fall auch der Zeit(erfahrung) überhoben sein und deshalb jeder menschlichen Zeit in gleichem Maße gegenwärtig sein müsse ("nunc stans"). - Schelling macht dagegen bzw. ergänzend geltend, dass jedes Ding seine Zeit - heute würde man sagen "Eigenzeit" - hat.

PETER L. OESTERREICH schließlich betrachtet unter dem Überschrift "Der umgekehrte Gott" Augustins Einfluss auf Schellings Rede vom Bösen. Die sog. Freiheitsschrift Schellings sieht Oesterreich eingeordnet "in die Reihe der De-libero-arbitrio-Literatur, die sich von Augustinus über Erasmus und Luther bis hin zu Kants Abhandlung vom radikal Bösen erstreckt" (485). Und Schellings Interpretation des Bösen berührt da-
bei die klassischen Themen der Theodizee, der Willensfreiheit, der Erbsünde und der Prädestination, die be- reits Augustinus in zentraler Weise diskutiert hatte. Schelling versteht die Freiheit als Willkürfreiheit, in der der Mensch sich selbst zum Guten oder Bösen bestimmen könne. Naheliegend und vielfach auch heute er- fahrbar ist, dass "die fortschreitende Emanzipation von allen physischen und metaphysischen Bindungen kei- neswegs unmittelbar zu neuer selbstbestimmter Identität, sondern in die Krise der moralischen Indifferenz führt" (487). Einem "inneren Hang folgend" erliege der Mensch sodann der Versuchung zum Bösen und ver- ursache damit eine "prinzipielle Verkehrung, die die gesamte Persönlichkeit des Menschen und ihre Mit- und Umwelt in Mitleidenschaft zieht" (487). Das Böse verbreite sich so im gesamten Universum. Das Böse ist - nach Schelling - mithin eben nicht nur der Mangel an Gutem (wie Augustinus es versteht), sondern die posi- tiv gewollte Perversion des Guten. Aufgrund dieser eigenständigen Verfügung zum Bösen macht der Mensch sich durch die Sünde für Schelling zum "umgekehrten Gott".

Im Ganzen gibt das Buch einen hervorragenden Einblick in die Rückbezüglichkeit des schelling'schen Den- kens in die philosophische und theologische Antike und macht auf diese Weise einmal mehr deutlich, dass es an großen Problemen für die Menschen "nichts Neues unter der Sonne gibt" bzw. dass (insbesondere im Hin- blick auf die "Alten") mit großem Recht von einer "philosophia perennis" gesprochen werden darf.

Herbert Frohnhofen, 11. August 2008