Theologie-Systematisch
Mariologie
0. Einführendes
Texte-allgemein

"27.    Die Synodenväter haben erklärt, daß es der XII. Versammlung grundle-
gend darum ging, »den Glauben der Kirche an das Wort Gottes zu erneuern«.
Dazu müssen wir dorthin blicken, wo die Wechselseitigkeit zwischen dem Wort
Gottes und dem Glauben vollkommene Erfüllung gefunden hat: auf die Jung-
frau Maria, »die mit ihrem Ja zum Wort des Bundes und zu ihrer Sendung die
göttliche Berufung der Menschheit vollkommen erfüllt«. Die durch das Wort
geschaffene menschliche Wirklichkeit findet ihre vollendete Gestalt im gehor-
samen Glauben Marias. Von der Verkündigung bis Pfingsten zeigt sie sich uns
als Frau, die sich dem Willen Gottes ganz und gar übereignet. Sie ist die Unbe-
fleckte Empfängnis, die von Gott »Begnadete« (vgl. Lk 1,28), bedingungslos
fügsam gegenüber dem göttlichen Wort (vgl. Lk 1,38). Ihr gehorsamer Glaube
prägt ihr Leben in jedem Augenblick angesichts der Initiative Gottes. Als hö-
rende Jungfrau lebt sie in vollem Einklang mit dem göttlichen Wort; die Ereig-
nisse, die ihren Sohn betreffen, bewahrt sie in ihrem Herzen und setzt sie
gleichsam zu einem einzigen Mosaik zusammen (vgl. Lk 2,19.51).

In unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwi-
schen Maria von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tie-
fer zu entdecken. Ich fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen
Mariologie und Theologie des Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für
das geistliche Leben als auch für die theologischen und biblischen Studien sehr
nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis über Maria aussagt, ge-
hört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich ist die Inkarna-
tion des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die durch ihre
Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie ist die
Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird. Maria
ist auch Symbol der Öffnung gegenüber Gott und dem Nächsten; sie ist aktives
Hören, das verinnerlicht, assimiliert, in dem das Wort Lebensform wird.

28.    Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Vertrautheit
Marias mit dem Wort Gottes richten. Das leuchtet ganz besonders eindringlich
im Magnifikat auf. Hier sieht man gewissermaßen, wie sie sich mit dem Wort
identifiziert, in es hineintritt; in diesem wunderbaren Glaubensgesang preist die
Jungfrau Maria den Herrn mit seinem eigenen Wort: »Das Magnifikat – gleich-
sam ein Porträt ihrer Seele – ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift,
aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, daß sie im Wort Gottes wirk-
lich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Got-
tes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes
her. So ist auch sichtbar, daß ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken
sind, daß ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von
Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wor-
tes werden«.

Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, daß das Handeln
Gottes in der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt, denn im Glauben ver-
wandelt uns das göttliche Wort. Auch unser apostolisches und seelsorgliches
Handeln kann niemals wirksam sein, wenn wir nicht von Maria lernen, uns vom
Wirken Gottes in uns formen zu lassen: »Die fromme und liebevolle Aufmerk-
samkeit gegenüber der Gestalt Marias als Vorbild und Urbild des Glaubens der
Kirche ist von grundlegender Bedeutung, um auch heute eine konkrete Ände-
rung des Beziehungsmusters der Kirche zum Wort zu bewirken, sowohl in der
Haltung betenden Hörens als auch in der Großherzigkeit des Einsatzes für die
Sendung und die Verkündigung«. Durch die Betrachtung des Lebens der Mutter
Gottes, das völlig vom Wort geprägt ist, entdecken wir, daß auch wir berufen
sind, in das Geheimnis des Glaubens einzutreten, durch das Christus in unse-
rem Leben Wohnung nimmt. Jeder gläubige Christ, so der hl. Ambrosius, emp-
fängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch nur ei-
ne Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Chris-
tus die Frucht aller. Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns
täglich beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder ge-
schehen."

(P. BENEDIKT XVI., Nachsynodales apostolisches Schreiben VERBUM DOMINI, Nr. 27f,
in: L'Osservatore Romano. Sonderdruck 40 (2010) Nr. 47 vom 26. November 2010, S. IVf)