Hermann Josef Spital, GOTT, DER UNS RAUM GIBT

Pastoralschreiben an die Seelsorgerinnen und Seelsorger des Bistums Trier (1999)

(Kurzfassung des Gedankengangs: H. Frohnhofen, April 1999)


1. Ausgangspunkt: Die drängende Frage nach dem Sinn des Lebens

Die Erfahrung der Natur sowie vor allem des menschlichen Zusammenlebens ist für uns ambivalent: 
Schönes und Aufbauendes steht brutalem, menschenverachtendem und zerstörerischem Handeln ge-
genüber, Sinnvolles Sinnlosem. Religiöse Sinndeutungen des gesamten Lebens, die die Funktion ha-
ben, auch das Böse, Schlechte und Negative in einen Sinnhorizont zu stellen, tragen für viele Men-
schen nicht mehr.

2. Monotheismus und Atheismus

Die monotheistische Weltdeutung des Judentums, des Christentums und des Islam, welche die Welt 
auf einen personalen, einzigen, allmächtigen und guten Gott zurückführt, steht in besonderer Weise 
in der Herausforderung, die Herkunft des Bösen zu erklären. Diese Lebensdeutung erscheint vielen 
als wenig lebensdienlich, und in der Vielzahl der angebotenen Weltanschauungen scheint deshalb 
wenig für sie zu sprechen. So bleibt vielen Orientierungslosigkeit, Bekenntnismüdigkeit oder ein 
mehr oder weniger kämpferischer Atheismus, der die Sinnfrage bewußt oder resigniert beiseite schiebt.

3. Wie finden wir Gott?

Die Hl. Schrift geht von einer zweifachen Offenbarung aus: wir erkennen Gott (1) durch die Schöpfung 
und (2) durch die vor allem in der Heiligen Schrift beschriebene Heilsgeschichte, die in Jesus Christus 
ihren Höhepunkt findet. Beide Offenbarungsweisen gehören zusammen, ergänzen sich, stehen aber auch
bisweilen in einer produktiven Spannung zueinander. Für eine gesunde Spiritualität ist es lebenswichtig, 
diese Ergänzung, aber auch die bestehende Spannung ernstzunehmen und nicht eines gegen das andere auszuspielen.

4. >Ich-Du<- und >Ich-Es<-Beziehungen und -Denkweisen

Der Mensch ist zu zweierlei Beziehungen und Denkweisen fähig. Die sachorientierte >Ich-Es<-Bezie-
hung bzw. -Denkweise entspricht der Schöpfungsoffenbarung und verhilft dem Menschen zur Welt- 
orientierung. Die personenbezogene oder personale >Ich-Du<-Beziehung bzw. -Denkweise entspricht 
der heilsgeschichtlichen Offenbarung und verhilft dem Menschen zur Heilsorientierung. Erstere führt 
zu einem festsetzenden, undynamischen (aus der klassischen Philosophie bekannten) Substanzdenken, 
letztere führt zu einem dynamischen Beziehungsdenken. Während ersteres vorrangig mit Begriffen ar-
beitet, verwendet letzteres Geschichten, Metaphern und erzählende Deutungen. Beide Denkweisen sind
wichtig für ihren jeweiligen Bereich (Gegenstände resp. Beziehungen).

5. Theologisches Denken ist Beziehungsdenken

Da theologisches Denken die Beziehungen zwischen Gott und Mensch, zwischen den trinitarischen
>Personen< sowie zwischen den Menschen als Geschöpfen Gottes behandelt, ist es Beziehungsden-
ken (vgl. >narrative Theologie<). Als solches bezieht es die Lebendigkeit der Beziehungen mit ein, 
ist Erfahrung erschließend bzw. dazu ermutigend und >mehr-ursprünglich< (Ich, Du, Sprache).

6. Gegenstands- und Beziehungswahrheit

>Gegenstandswahrheit< bedeutet Richtigkeit, logische Korrektheit; sie ist zeitlos gültig, kann festge-
stellt und allein gedacht werden. Sie führt zu technischem Können, Klarheit und Einfachheit. >Bezie- 
hungswahrheit< hingegen muß gelebt werden; sie bedeutet >Vertrauen schenken<, >Verläßliches 
schaffen, auf das der Mitmensch vertrauen kann< und Vielfalt zulassen. Beziehungswahrheit ist nicht 
entweder da oder nicht da, sondern  kann und muß wachsen. Sie setzt die Freiheit des Gegenüber vor-
aus und befestigt sie. Sie löst Angst. Beziehungswahrheit führt zu persönlicher Reife durch Treue und
Verbindlichkeit. In den westlichen Kulturen hat das Streben nach Gegenstandswahrheit Übergewicht
bekommen; für das menschliche Zusammenleben ist jedoch die Beziehungswahrheit wichtiger. Die 
Menschen in der Mediengesellschaft unterliegen der Gefahr, Beziehungen nur von außen anzuschau-
en und sich nicht (genügend) in sie hineinzugeben; hierdurch wird menschliche Reifung be- bzw. ver-
hindert.

7. Theologie reflektiert Beziehungswahrheit und führt in sie ein

Da die Wahrheit Gottes Beziehungswahrheit ist, reflektiert und formuliert Theologie diese. Theologie 
kann und darf deshalb nicht ausgrenzend, feststellend, zwingend und allein satzhaft sein. Sie kann und 
muß heute erzählend, dynamisch, vielfältig und tolerant sein. Wenn Christus nach Joh 14,6 sagt: „Ich 
bin die (Beziehungs-)Wahrheit,“,
ist die Aufgabe der Theologie, diese zu reflektieren, in sie einzufüh-
ren und damit „ein Leben in Verbundenheit mit Jesus Christus zu ermöglichen“ (52). Dabei hat jeder 
Mensch seinen je eigenen Weg zu Jesus Christus, ohne daß dadurch die eine Wahrheit Jesu Christi re-
lativiert wird: „theologi-sche Wahrheiten haben Aufweis- und Hinweischarakter. Sie wollen Wege er-
schließen, nicht aber Personen vereinnahmen“
(53). (Hinweis auf Erklärung des Vat. II über Religi- 
onsfreiheit).

8. Beziehungen schaffen einen dynamischen Lebensraum

Jede Beziehung zwischen Menschen schafft einen Lebensraum, in dem die Menschen sich entwickeln 
und reifen können. Da auch trinitätstheologisch von Beziehungen zwischen den göttlichen >Personen<
gesprochen wird bzw. diese >Personen< vollständig ihre Beziehungen zueinander >sind<, ist auch hier 
von einem >innergöttlichen< Beziehungsraum auszugehen. Durch seine Beziehung zum Menschen 
schafft der trinitarische Gott dem Menschen Lebens- und Reifungsraum.

9.  Kirche ist Teilgabe und Teilnahme am dreifaltigen Leben

Der durch Gott dem Menschen eröffnete Lebens- und Reifungsraum ist für diesen wesentlich nicht nur 
ein individueller, sondern ein gemeinsamer (Communio). Im Gebet geschieht das Einbezogenwerden in 
diesen Raum, der die Kirche ist. Dieser Lebensraum eröffnet dem Menschen Lebensfülle, indem er am
lebendigen Austausch des Heiligen Geistes (annehmend und weiterschenkend) teilhat. Im ordinierten 
Amt wird dieser Kirche die Christusrepräsentanz gegenübergestellt, wodurch „eine unmittelbare Bezie-
hung zu Jesus Christus ermöglicht werden soll"
(75). Jedes Sakrament eröffnet solche Christusbegeg-
nung. Das (nichtkonfessionalistische) Bekenntnis zu dieser Lebenswirklichkeit ist wichtig.

10.  Pastorale Arbeit bedeutet: Erfahrungen ermöglichen und erschließen

Pastorale Arbeit bedeutet entsprechend obigem nicht in erster Linie Gegenstandswahrheit zu vermitteln,
sondern in Beziehungswahrheit, in die Lebensdimension der Kirche  einzuführen. Dazu gehören vor al-
lem: Selbsteinsatz, Bezie- hungsverbindlichkeit, Bibelteilen, Gesprächsgruppen, Einbezug von Dichtung,
Kirche als Einbeziehungsangebot vermitteln, Kirche in den Spannungen der gegenwärtigen Welt leben,
Verständnis für die Sakramente wecken, Strukturdebatten nicht geringschätzen, aber auch nicht in den
Mittelpunkt stellen, Exerzitien im Alltag leben, Katecheten suchen und fördern usw.