Jan Assmann, Die "mosaische Unterscheidung" und ihre Konsequenzen
(in einer thesenartigen Zusammenfassung von Erich Zenger)

"(1) 'Irgendwann im Laufe des Altertums - die Datierungen schwanken zwischen der späten Bronzezeit
und der Spätantike - ereignete sich eine Wende, die entscheidender als alle politischen Veränderungen
die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben. Das ist die Wende von den 'polytheistischen' zu den 'mo-
notheistischen' Religionen, von Kultreligionen zu Buchreligionen, von kulturspezifischen Religionen zu
Weltreligionen, kurz von 'primären' zu 'skundären' Religionen' (J. Assmann, Die Mosaische Unterschei-
dung oder der Preis der Freiheit, München-Wien 2003, 11).

(2) Assmann greift hier bekanntlich eine auf Theo Sundermeier (Th. Sundermeier, Art. Religion, Re-
ligionen, in: K. Müller/Th. Sundermeier (Hg.), Lexikon missionstheologischer Begriffe, Berlin 1987,
411-423) zurückgehende Unterscheidung auf und expliziert sie folgendermaßen: 'Primäre Religionen
sind über Jahrhunderte und Jahrtausende historisch gewachsen im Rahmen einer Kultur, Gesellschaft
und auch Sprache, mit der sie unauflöslich verbunden sind. Dazu gehören auch die Kult- und Götter-
welten der ägyptischen, babylonischen und griechisch-römischen Antike. Sekundäre Religionen dage-
gen sind Religionen, die sich einem Akt der Offenbarung und Stiftung verdanken, auf den primären
Religionen aufbauen und sich typischerweise gegen diese abgrenzen, indem sie sie zu Heidentum, Göt-
zendienst und Aberglauben erklären' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung..., 11).

(3) Den Kernpunkt der Wende von den primären zu den sekundären Religionen bezeichnet Assmann
mit dem Begriff der 'Mosaischen Unterscheidung'. Das Entscheidende ist dabei ' nicht die Unterschei-
dung zwischen dem Einen Gott und den vielen Göttern..., sondern die Unterscheidung zwischen wahr
und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, der wahren Lehre
und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube' (J. Assmann, Die Mo-
saische Unterscheidung... , 12f).

(4) Den sekundären Religionen gemeinsam ist ein emphatischer und exkludierender Wahrheitsbegriff.
'Daher kann man diese neuen Religionen vielleicht am treffendsten mit dem Begriff der 'Gegenreligi-
on' kennzeichnen. Diese und nur diese Religionen haben zugleich mit der Wahrheit, die sie verkünden,
auch ein Gegenüber, das sie bekämpfen. Nur sie kennen Ketzer und Heiden, Irrlehren, Sekten, Aber-
glauben, Götzendienst, Idolatrie, Magie, Unwissenheit, Unglauben, Häresie und wie die Begriffe alle
heißen mögen für das, was sie als ERscheinungsformen des Unwahren denunzieren, verfolgen und aus-
grenzen' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung... , 14).

(5) 'Der Begriff Gegenreligion soll das diesen Religionen innewohnende Negationspotential herausstel-
len (...) Sekundäre Religionen müssen intolerant sein, d.h. sie müssen einen klaren Begriff von dem ha-
ben, was sie als mit ihren Wahrheiten unvereinbar empfinden, wenn anders diese Wahrheiten jene le-
bensgestaltende Autorität, Normativität und Verbindlichkeit haben sollen, die sie beanspruchen. Diese
kritische und umgestaltende Gewalt speist sich aus ihrer negativen Energie, d.h. ihrer Kraft der Ver-
neinung und der Ausgrenzung.' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung... , 26).

(6) Die Welt der primären Religionen war nicht frei von Hass und Gewalt. 'Sie war im Gegenteil von
Gewalt und Feindschaft in verschiedensten Formen erfüllt, und viele dieser Formen sind von den mo-
notheistischen Religionen im Zuge ihrer transformatorischen Machtentfaltung gebändigt, zivilisiert
oder geradezu ausgemerzt worden, weil sie diese Gewalt mit der von ihnen vertretenen Wahrheit als
unvereinbar empfanden (...) Ebensowenig lässt sich aber bestreiten, dass sie (d.h. die monotheistischen
Religionen) gleichzeitig eine neue Form von Hass in die Welt gebracht haben: den Hass auf Heiden,
Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter.' (J. Assmann, Die Mosaische Unterschei-
dung... , 28f).

(7) 'Die Wende von der primären zur sekundären Religion spielt sich in der Bibel selbst ab.' (J. Assmann,
Die Mosaische Unterscheidung... , 19). Sie ist dort mit der Figur des Mose verbunden. Er wird als Mitt-
ler der Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion präsentiert, weshalb diese Unterschei-
dung - nicht im Sinne einer historischen, sondern einer gedächtnisgeschichtlichen Aussage - die 'Mosai-
sche Unterscheidung' genannt werden kann. Die Hebräische Bibel erzählt nach Assmann die monotheis-
tische Durchsetzung dieser Entscheidung als eine Geschichte der Gewalt in einer Serie von Massakern.
Urszenen der monotheistischen Gewalt sind das Massaker im Anschluss an das Kultfest vor dem Golde-
nen Kalb (vgl. Ex 32), die Tötung der 450 Baalspropheten auf Befehl des Elija nach dem Götterwettstreit
mit dem Sieg JHWHs auf dem Berg Karmel (vgl. 1 Kön 18), die gewaltsame Durchsetzung der joschija-
nischen Kultreform (vgl. 2 Kön 23), aber auch die von Esra durchgeführte Zwangsscheidung der Misch-
ehen (vgl. Esra 9,1-4; 10,1-17). Dabei behauptet Assmann nicht die Historizität dieser und der vielen an-
deren biblischen Gewaltszenen. Im Fall der Historizität ließen sich manche der erzählten Geschehnisse
vielleicht sogar zeitgeschichtlich erklären oder als politische Fehlentscheidungen relativieren. Falls man
diese Ereignisse aber nicht für historisch hält, sondern für Geschichten, in denen 'eine Geselschaft sich
eine Vergangenheit konstruiert oder rekonstruiert, die ihren gegenwärtigen Zielen und Problemen Sinn
und Perspektive gibt, also für symbolische Erzählungen, stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutung mit
besonderer Dringlichkeit' (J. Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, in: P. Walter (Hg.),
Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieinige Gott (QD 216) Freiburg 2005, 20). Da es Ge-
schichten sind, in denen es um die Durchsetzung der wahren Religion geht und da die theologische Spra-
che der Hebräischen Bibel insgesamt stark gewaltimprägniert ist, stellt sich die Frage, ob Gewalt, Hass
und Zwang der notwendige Preis der biblischen Gottes-Wahrheit sind, mit besonderer Schärfe.

Bestätigen die Sprache und die Bilder der Gewalt, die gerade im Kontext der Gottesfrage verwendet wer-
den, also die These, dass die sog. abrahamitischen Religionen als sekundäre Religionen intolerant sein
müssen und so von ihrem Ansatz her ein hohes inhärentes Gewaltpotential besitzen?"

(Erich Zenger, Gewalt als Preis der Wahrheit? Alttestamentliche Beobachtungen zur sogenannten
Mosaischen Unterscheidung, in: Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongress-
band des XII.
Europäischen Kongresses für Theologie 18.-22. September 2005 in Berlin (Veröffentli-
chungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29) Gütersloh 2006, 35-57, hier: 37-39)