"(1) 'Irgendwann im Laufe des Altertums - die Datierungen
schwanken zwischen der späten Bronzezeit
und der Spätantike - ereignete sich eine Wende, die entscheidender
als alle politischen Veränderungen
die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben. Das ist die Wende von den
'polytheistischen' zu den 'mo-
notheistischen' Religionen, von Kultreligionen zu Buchreligionen, von kulturspezifischen
Religionen zu
Weltreligionen, kurz von 'primären' zu 'skundären' Religionen'
(J. Assmann, Die Mosaische Unterschei-
dung oder der Preis der Freiheit, München-Wien 2003, 11).
(2) Assmann greift hier bekanntlich eine auf Theo Sundermeier (Th. Sundermeier,
Art. Religion, Re-
ligionen, in: K. Müller/Th. Sundermeier (Hg.), Lexikon missionstheologischer
Begriffe, Berlin 1987,
411-423) zurückgehende Unterscheidung auf und expliziert sie folgendermaßen:
'Primäre Religionen
sind über Jahrhunderte und Jahrtausende historisch gewachsen im Rahmen
einer Kultur, Gesellschaft
und auch Sprache, mit der sie unauflöslich verbunden sind. Dazu gehören
auch die Kult- und Götter-
welten der ägyptischen, babylonischen und griechisch-römischen
Antike. Sekundäre Religionen dage-
gen sind Religionen, die sich einem Akt der Offenbarung und Stiftung verdanken,
auf den primären
Religionen aufbauen und sich typischerweise gegen diese abgrenzen, indem
sie sie zu Heidentum, Göt-
zendienst und Aberglauben erklären' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung...,
11).
(3) Den Kernpunkt der Wende von den primären zu den sekundären
Religionen bezeichnet Assmann
mit dem Begriff der 'Mosaischen Unterscheidung'. Das Entscheidende ist
dabei ' nicht die Unterschei-
dung zwischen dem Einen Gott und den vielen Göttern..., sondern die
Unterscheidung zwischen wahr
und falsch in der Religion, zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern,
der wahren Lehre
und den Irrlehren, zwischen Wissen und Unwissenheit, Glaube und Unglaube'
(J. Assmann, Die Mo-
saische Unterscheidung... , 12f).
(4) Den sekundären Religionen gemeinsam ist ein emphatischer und exkludierender
Wahrheitsbegriff.
'Daher kann man diese neuen Religionen vielleicht am treffendsten mit dem
Begriff der 'Gegenreligi-
on' kennzeichnen. Diese und nur diese Religionen haben zugleich mit der
Wahrheit, die sie verkünden,
auch ein Gegenüber, das sie bekämpfen. Nur sie kennen Ketzer
und Heiden, Irrlehren, Sekten, Aber-
glauben, Götzendienst, Idolatrie, Magie, Unwissenheit, Unglauben,
Häresie und wie die Begriffe alle
heißen mögen für das, was sie als ERscheinungsformen des
Unwahren denunzieren, verfolgen und aus-
grenzen' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung... , 14).
(5) 'Der Begriff Gegenreligion soll das diesen Religionen innewohnende
Negationspotential herausstel-
len (...) Sekundäre Religionen müssen intolerant sein, d.h. sie
müssen einen klaren Begriff von dem ha-
ben, was sie als mit ihren Wahrheiten unvereinbar empfinden, wenn anders
diese Wahrheiten jene le-
bensgestaltende Autorität, Normativität und Verbindlichkeit haben
sollen, die sie beanspruchen. Diese
kritische und umgestaltende Gewalt speist sich aus ihrer negativen Energie,
d.h. ihrer Kraft der Ver-
neinung und der Ausgrenzung.' (J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung...
, 26).
(6) Die Welt der primären Religionen war nicht frei von Hass und Gewalt.
'Sie war im Gegenteil von
Gewalt und Feindschaft in verschiedensten Formen erfüllt, und viele
dieser Formen sind von den mo-
notheistischen Religionen im Zuge ihrer transformatorischen Machtentfaltung
gebändigt, zivilisiert
oder geradezu ausgemerzt worden, weil sie diese Gewalt mit der von ihnen
vertretenen Wahrheit als
unvereinbar empfanden (...) Ebensowenig lässt sich aber bestreiten,
dass sie (d.h. die monotheistischen
Religionen) gleichzeitig eine neue Form von Hass in die Welt gebracht haben:
den Hass auf Heiden,
Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter.' (J.
Assmann, Die Mosaische Unterschei-
dung... , 28f).
(7) 'Die Wende von der primären zur sekundären Religion spielt
sich in der Bibel selbst ab.' (J. Assmann,
Die Mosaische Unterscheidung... , 19). Sie ist dort mit der Figur des Mose
verbunden. Er wird als Mitt-
ler der Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion präsentiert,
weshalb diese Unterschei-
dung - nicht im Sinne einer historischen, sondern einer gedächtnisgeschichtlichen
Aussage - die 'Mosai-
sche Unterscheidung' genannt werden kann. Die Hebräische Bibel erzählt
nach Assmann die monotheis-
tische Durchsetzung dieser Entscheidung als eine Geschichte der Gewalt
in einer Serie von Massakern.
Urszenen der monotheistischen Gewalt sind das Massaker im Anschluss an
das Kultfest vor dem Golde-
nen Kalb (vgl. Ex 32), die Tötung der 450 Baalspropheten auf Befehl
des Elija nach dem Götterwettstreit
mit dem Sieg JHWHs auf dem Berg Karmel (vgl. 1 Kön 18), die gewaltsame
Durchsetzung der joschija-
nischen Kultreform (vgl. 2 Kön 23), aber auch die von Esra durchgeführte
Zwangsscheidung der Misch-
ehen (vgl. Esra 9,1-4; 10,1-17). Dabei behauptet Assmann nicht die Historizität
dieser und der vielen an-
deren biblischen Gewaltszenen. Im Fall der Historizität ließen
sich manche der erzählten Geschehnisse
vielleicht sogar zeitgeschichtlich erklären oder als politische Fehlentscheidungen
relativieren. Falls man
diese Ereignisse aber nicht für historisch hält, sondern für
Geschichten, in denen 'eine Geselschaft sich
eine Vergangenheit konstruiert oder rekonstruiert, die ihren gegenwärtigen
Zielen und Problemen Sinn
und Perspektive gibt, also für symbolische Erzählungen, stellt
sich die Frage nach ihrer Bedeutung mit
besonderer Dringlichkeit' (J. Assmann, Monotheismus und die Sprache der
Gewalt, in: P. Walter (Hg.),
Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieinige Gott (QD 216) Freiburg
2005, 20). Da es Ge-
schichten sind, in denen es um die Durchsetzung der wahren Religion geht
und da die theologische Spra-
che der Hebräischen Bibel insgesamt stark gewaltimprägniert ist,
stellt sich die Frage, ob Gewalt, Hass
und Zwang der notwendige Preis der biblischen Gottes-Wahrheit sind, mit
besonderer Schärfe.
Bestätigen die Sprache und die Bilder der Gewalt, die gerade im Kontext
der Gottesfrage verwendet wer-
den, also die These, dass die sog. abrahamitischen Religionen als sekundäre
Religionen intolerant sein
müssen und so von ihrem Ansatz her ein hohes inhärentes Gewaltpotential
besitzen?"
(Erich Zenger, Gewalt als Preis der Wahrheit? Alttestamentliche
Beobachtungen zur sogenannten
Mosaischen Unterscheidung, in: Friedrich Schweitzer
(Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongress-
band des XII. Europäischen Kongresses
für Theologie 18.-22. September 2005 in Berlin (Veröffentli-
chungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29) Gütersloh
2006, 35-57, hier: 37-39)