"Zeitlebens hat Luther
auf den Spuren Augustins und übrigens auch des gesamten Mittel-
alters eine absolute Vorherbestimmung aller Menschen durch Gott zum Heil
oder Unheil
vertreten. Darin ist er, wie alle vor ihm und noch viele nach ihm bis ins
20. Jahrhundert
hinein, ein unseliger Erbe Augustins und seines (für ihn unvermeidlichen)
Mißverständ-
nisses der paulinischen Lehre im Römerbrief (Röm 9-11). Wenn
Luther noch in 'De servo
arbitrio' erklärt: 'Das ist die höchste Sufe des Glaubens, zu
glauben, jener sei gütig, der
so wenige selig macht, so viele verdammt; zu glauben, er sei gerecht, der
durch seinen
Willen uns so, daß es nicht anders sein kann, verdammenswert macht,
daß es scheint...,
er ergötze sich an den Qualen der Unglücklichen und als sei er
mehr des Hasses als der
Liebe wert' (18,633,15), so wiederholt er damit nur auf seine Weise den
kühlen und da-
rum um so mehr schockierenden Satz des Thomas, daß Gott deswegen
nur wenige zur
ewigen Seligkeit vorherbestimmt, weil seine Barmherzigkeit um so heller
in Erscheinung
trete, wenn nur wenige das Hochziel des ewigen Lebens erreichen (STh I
23,5 ad 3; 7 ad
3; Suppl 99,2 ad 3). Im einen wie im anderen Fall ist es nichts als das
'schauererregen-
de' Gottesbild des Augustinus, das so zu nennen die Augustinusforschung
unserer Tage
nicht länger zögert. Erst in unseren Jahren löst sich allmählich
der Bann dieser furcht-
baren theologischen Verirrung, und zwar nicht nur unter dem Einfluß
einer richtigen
Exegese von Röm 9-11, sondern auch und vor allem durch den vollkommen
neuen sy-
stematischen Ansatz, den wir der 'Erwählungslehre' Karl Barths verdanken.
Insoweit also muß
Luther entlastet werden. Er ist auch noch unendlich viel mehr als die
unter Denkblockade stehenden mittelalterlichen Theologen auf dem richtigen
Weg, wenn
er die Frage der Prädestinationslehre nicht nur, wie Augustinus und
Thomas, für eine Fra-
ge theoretischer Wahrheit oder theoretischen Irrtums über Gott hält:
'Frage nicht, wenn
du nicht irren willst', sondern sich eingesteht, daß die Prädestinationslehre,
nimmt man sie
ernst, zum Verzweifeln ist (Br 4,589,23 u.a.). Darum auch in allen Phasen
seiner Lehrtätigkeit seine rigorose Anweisung, den Spekulationen über
die göttliche Vorherbestimmung ein für allemal abzusagen und sich
statt dessen an Christus zu halten, in dem Gott uns seinen Heilswillen enthüllt
und damit für jeden, der an ihn glaubt, gewissermaßen geschichtlich
das Problem der Prädestination gelöst hat.
Dann aber kommt die einmalige
Zuspitzung: Offenbar - jedenfalls hält Luther das für ganz selbstverständlich
- wird das Christusheil doch nicht an allen menschen wirksam. Anderseits ist
für Luther die auf die absolute Prädestination hinauslaufende Gedankenreihe
unumstößlich, keine Einwände machen ihn darin irre, weder
der Hinweis auf Gottes Gerechtigkeit noch die behauptete Gefahr für
das sittliche Bemühen noch die befürchtete Bedrohung der Glaubwürdigkeit
der göttlichen Liebe. Dann aber muß die Tatsache, daß das
Christusheil nicht allen zugute kommt, darauf zurückgeführt werden,
daß hinter dem geoffenbarten Heilswillen, der allen Menschen gilt,
noch ein verborgener Wille Gottes steht, demzufolge nicht alle Menschen das
gleichwohl allen Menschen geltende Angebot der Gnade im Glauben annehmen.
Und diesem verborgenen Willen muß demnach die doppelte Prädestination
zugewiesen werden. Die verborgene Gnadenwahl Gottes gehört hier also
nicht, wie bisher, zum Offenbarungs- und Heilshandeln Gottes, sie bleibt noch
hinter Gottes Heilshandeln, unbefragbar, in Anerkennung der Majestät
Gottes nur anzubeten."
(O.H. Pesch, Hinführung zu
Luther, Mainz 32004, 292ff)