Lorenz Bruno Puntel, Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit
M. Heidegger,
E. Levinas und J.-L. Marion (Philosophische Untersuchungen 26) Tübingen 2010;

Angesichts unzähliger - auch aktueller - Äußerungen und Veröffentlichungen, die die Gottesfrage auf sehr
geringem theoretischem Niveau behandeln, ist das vorliegende Werk des bekannten Münchener Philosophen
ein dringendes Desiderat. Im Ausgang von seinem umfassenden systematischen Werk >Struktur und Sein<
(2006) arbeitet er hier die von ihm sogenannte Gesamtsystematik weiter aus, d.h. jenen Bereich, der sich mit
dem Blick auf das Gesamte unseres Seins und damit wesentlich auf die Gottesfrage bezieht. Dabei macht P.
einleitend zweierlei klar: Weder ist es ihm ein Anliegen, eine vollständige >Theorie über Gott< (Gotteslehre)
zu verfassen (1) noch verfolgt er eine praktisch-methodische Absicht etwa in dem Sinne, irgendjemanden
hinsichtlich eines >Gottesglaubens< o.ä. zu überzeugen (3); vielmehr ist das "spezifische Ziel" seines Buches,
"die Klärung des philosophischen Rahmens für eine solche Theorie" über Gott (1).

Überraschend ist der Aufbau des Buches. Lediglich das dritte Kapitel (ca. 150 von knapp 450 Seiten) ist dem
angesprochenen Anliegen im engeren Sinne gewidmet. Ein erstes Kapitel benennt, erläutert und kategorisiert
auf durchweg überzeugende Weise eine Reihe von unzureichenden, weil >unsystematischen< (Pascal, Küng,
Platinga), >halbsystematischen< (Thomas von Aquin, Spaemann, Swinburne), >antisystematischen< (Witt-
genstein) oder auch völlig verfehlten (Nagel) Zugängen zur Gottesfrage. Das zweite Kapitel diskutiert das
>Seinsdenken< Martin Heideggers, "das die große Seinsfrage vor dem Hintergrund ihrer über zweitausend-
jährigen Geschichte erneut und kraftvoll stellt, ohne allerdings einen sachgemäßen Durchbruch zu erzielen"
(145); im Gegenteil Heideggers Denken sei eine "grundsätzlich defiziente und konfuse Gestalt von 'Denken'"
(135). Das abschließende vierte Kapitel ist zwei postmodernen Philosophen (Levinas und Marion) gewidmet,
die ebenfalls auf sehr unzureichende Weise mit der Gottesfrage operieren.

Eingebettet in diese detailliert und überzeugend erarbeiteten kritischen Ausführungen also entwickelt P. im
dritten Kapitel seinen eigenen "Ansatz zu einer struktural-systematischen Theorie über Sein und Gott" (145),
dessen Ausgangsthese es ist, "dass es einzig im Rahmen einer kohärenten umfassenden Theorie des Seins als
solchen und im Ganzen möglich und sinnvoll ist, eine adäquate Konzeption über Gott zu entwickeln" (145).
Ein erster Abschnitt rekapituliert hierzu wichtige systematische Grundlagen, wie sie im oben genannten Werk
>Struktur und Sein< ausführlich entwickelt wurden. Im Mittelpunkt steht die Vorstellung der wichtigsten
Aspekte und Komponenten des von P. sogenannten struktural-systematischen Theorierahmens, einer hierauf
bezogenen Theorie der Wahrheit sowie der begründete und sehr nachvollziehbare Hinweis darauf, dass es
gerade die ontologische Bezugnahme ist, die zwar seit Jahrtausenden intuitiv mit dem Wahrheitsverständnis
in Verbindung gebracht wird, in der Regel aber im Zusammenhang der konkreten Wahrheitsbeanspruchung
undifferenziert und unhinterfragt bleibt.

Im Zusammenhang der Gottesfrage, das erläutert der zweite Abschnitt, steht die Gesamtheit des Seins als die-
se Gesamtheit, der >universe of discourse< als solcher, oder traditionell gesprochen: das Sein der Seienden
und damit das (aktuale und potentielle) Sein selbst, zur Diskussion bzw. zur Bearbeitung an. Zu diesem hat
der Mensch von Beginn an einen Bezug, und zwar so, "dass der menschliche Geist von der Betrachtung ein-
zelner 'Dinge (Seienden)' ausgehen kann und allmählich zur Betrachtung immer weiterer Zusammenhänge
und schließlich zum Zusammenhang aller Zusammenhänge, nämlich der Dimension des Seins selbst, fort-
schreitet" (191). Näherhin spricht P. von einem "primordialen Sein", das die Seite des gesamten universe of
discourse und das Moment, dass es vom menschlichen Geist begriffen wird, umfasst, also einen "universalen
Zusammenhang" meint bzw. den "Zusammenhang aller Zusammenhänge" (196), außerhalb dessen nichts
mehr "vorstellbar, konzipierbar, thematisierbar" ist (197). Für das Dasein des gesamten universe of discours
steht traditionell der Ausdruck >Existenz<. Für dessen Bezogenheit auf den Geist des Menschen, bzw. für
den Gesamtzusammenhang des universe of discourse mit dem Begreifen des Menschen aber der umfassende
Ausdruck >Sein<. Diese umfassende Seinsdimension hat bei näherer Betrachtung folgende Merkmale: Sie ist
selbst intelligibel, d.h. "dem Denken/Geist bzw. der Sprache zugänglich", ohne "dass wir als endlich Erken-
nende in der Lage wären, sie vollständig zu artikulieren" (220). Sie ist ein universaler, strukturierter Zusam-
menhang, der ausdrückbar/artikulierbar und aus der Perspektive des Willens ein Gutes ist.

Hieran anschließend wird die Seinsdimension hinsichtlich der Modalitäten expliziert, und in diesem Zusam-
menhang eine "Demonstration" des Autors vorgelegt, dass "eine notwendige Dimension des Seins anzuneh-
men ist" (234). Diese hat die Form: "Wenn alles (das Sein als solches und im Ganzen) kontingent wäre, dann
wäre das absolute Nichts (nihilum absolutum) möglich; nun ist das absolute Nichts nicht möglich; daher ist
nicht alles kontingent" (234). Entscheidend für die Geltung dieser Demonstration ist der Mittelsatz: "das ab-
solute Nichts ist nicht möglich". Dieser Mittelsatz wird vor allem dadurch begründet, dass es schlechterdings
undenkbar ist, dass aus dem absoluten Nichts das nunmehr gegebene Seiende bzw. das Sein an sich, entstan-
den sei; da ein solcher Übergang nicht möglich sei, müsse es notwendiges Sein geben, das man auch als "eine
notwendige Seinsdimension" bezeichnen könne (236). Dieses absolutnotwendige Sein muss seinerseits als ein
geistiges verstanden werden, das gegenüber dem kontingenten Sein (>der Welt< als Ganzer) als Schöpfer zu
begreifen ist; denn es "beruht auf einer freien Entscheidung des Absoluten Seins, die kontingente Seinsdimen-
sion aus dem Nichtsein ins Sein zu setzen" (244). Die in der Tradition und oft auch heute vorgenommene
Veranschaulichung dieser Schöpfungsbeziehung zwischen absolutnotwendigem Sein und kontingentem Sein
durch den aus der kontingenten Welt bekannten Kausalitätsgedanken hat allerdings mehr verunklart als ge-
klärt; bis heute scheint er die bedeutendste Quelle für Missverständnisse des Schöpfungsgedankens, eines der
"grandiosesten Gedanken, die der menschliche Geist haben kann" (245), zu sein.

Die Transzendenz Gottes (= des absolutnotwendigen Seins) "hinsichtlich der kontingenten Seienden ereignet
sich in Gott selbst, als sein eigenes aus seiner eigenen Freiheit heraus sich ereignendes 'Geschehen'." Denn
indem "Gott kontingente Seiende schöpferisch ins-Sein setzt, schafft er in sich selbst jenen Unter-Schied zu
sich, den wir Transzendenz nennen" (270). Da mithin aber die kontingent Seienden bleibend auf das absolut-
notwendige Sein bezogen sind, ja dieses in ihnen enthalten ist, kann nicht von einer absoluten, sondern nur
von einer relativen Transzendenz gesprochen werden.

Im Ganzen liegt damit erstmals eine überzeugende, philosophisch erarbeitete, die metaphysische Tradition
einbeziehende Grundlage für eine Konzeption der - natürlichen und dann auch theologischen - Gotteslehre
vor. Interessant wäre nun vor allem, ob und wie sich der Gedanke einer Inkarnation dieses Gottes in einen
Menschen einfügen ließe.

Herbert Frohnhofen 21. März 2010