Thomas Ruster, Von Menschen,
Mächten und Gewalten.
Eine Himmelslehre, Ostfildern 2. Aufl. 2007;
Eine "Himmelslehre", so heißt es im Untertitel
dieses Buches; das weckt Interesse. Gilt doch die Rede von ei-
nem Himmel längst - auch und gerade theologisch - weitgehend als vernachlässigbar,
wenn nicht gar als über-
flüssig, seit und soweit eine räumlich-geographische Vorstellung
desselben überwunden wurde. Thomas Rus-
ter lässt es damit aber nicht bewenden und beansprucht, "mit diesem
Buch... eine komplette theologische Him-
melslehre" vorzulegen (5). Behandelt werden dabei "zum einen
die verschiedenen Himmelswesen, also sowohl
die gefallenen Engel - auch Mächte und Gewalten genannt - wie die
seligen Engel" (5). Dabei steht die Erfah-
rung im Hintergrund, dass in Filmen und Fantasy-Literatur, in Esoterik
und Okkultismus seit Jahren sehr wohl
und intensiv von geheimnisvollen Wesen die Rede ist, von Mächten und
Gewalten, die vom Himmel her oder
von wo auch immer die Menschen bedrängen. Diese unsichtbaren Wesen,
so R., scheinen sich von den Men-
schen zu ernähren, sind ihnen feindlich gesonnen, tarnen sich aber
und sind deshalb schwer zu identifizieren;
deshalb könnten sie ungehindert ihre negative Wirkung auf die Menschen
entfalten. Zugleich sei das Wissen
darum, wie man sich des Beistands der heiligen Engel gegen diese blutsaugenden
Mächte und Gewalten ver-
sichere praktisch ganz aus der Welt entschwunden; gerade deshalb dürfe
die Theologie zu dieser Frage nicht
schweigen und müsse "ihr - wenn auch zuweilen unsicheres und schwaches
Wissen - über den Himmel und sei-
ne Bewohner" ausbreiten (5). Dazu hat R. "altes, zum Teil fast
vergessenes theologisches Material sowie neue
und neueste Theorien über den Himmel herangezogen" (5); besonderes
Augenmerk hat er auf einschlägige Tra-
ditionen des Judentums gelegt, weil es für R. "als sicher gelten
kann, dass Jesus bei seinem Sieg über den Ver-
sucher (Lk 4,1-13) auf Mittel zurückgegriffen hat, die in Israel
bereitlagen und sich im Judentum erhalten ha-
ben" (5). Denn der Kampf gegen falsche Götter bzw. Mächte
und Gewalten im Namen des einen und wahren
Gottes selbst ist ein wesentlich verbindendes Motiv biblischer Glaubensgemeinschaften
und Verkündigung.
Hauptthese des Buches ist es sodann, dass die von
NIKLAS LUHMANN in seiner Systemtheorie beschriebe-
ne "überindividuelle Wirklichkeit und Wirksamkeit der Systeme (das)
ist..., was biblisch-theologisch Mächte
und Gewalten oder, allgemeiner, Engel bzw. reine Geister genannt wird"
(117), dass also die Systemtheorie
Luhmanns als ein interpretatorisches Instrumentarium zu verwenden ist,
um klassisch-theologische Himmels-
lehre der Mächte und Gewalten zu rekonstruieren bzw. zeitgemäß
zu verstehen. Oder noch einmal anders von
R. selbst formuliert; er versucht die These zu plasibilisieren, "bei
der Systemtheorie Luhmanns handele es sich
um eine Art Himmelslehre, sie beziehe sich auf dieselben Wirklichkeiten,
die in der Theologie unter dem Na-
men der Engel verhandelt werden" (139). Dabei ist er sich der Tatsache
bewusst, dass der vorliegende Aufweis
einer solchen Plausibilisierung in der Tat ein allererster Versuch dazu
ist, der selbst "die Höhe und die Komple-
xität weder der neuscholastischen noch der systemtheoretischen
Theorie erreicht hat" (139).
Wie geht R. hierzu im einzelnen vor? Dass wir von
höheren Gewalten in unserem Leben regiert werden,
veranschaulicht R. zunächst an dem - auch in der Folge immer wieder
herangezogenen - Beispiel des Indivi-
dualverkehrs mit dem Automobil. So sehr auf der einen Seite jeder
einzelne seinen Vorteil und sein schnel-
les Fortkommen im lustbesetzten Autoverkehr sucht, so sehr führt genau
dies auf der anderen Seite zu enormen
Folgekosten für die Gesellschaft und Umwelt sowie oftmals auch in
den großen Stau. Die sich hierdurch auch
gegen den einzelnen Verkehrsteilnehmer und jeden Bewohner wie jede Bewohnerin
des Landes richtende Macht
wird als eine "höhere" erfahren, der sie selbst unterworfen
sind und nicht mehr entrinnen können. Ein zweites
hierzu von R. im Laufe des Buches häufig zitiertes Beispiel ist das
auf Zins aufgebaute kapitalistische Wirt-
schaftssystem, das den Zwang zu einem ständigen Wirtschaftswachstum
in sich birgt und damit notwendiger-
weise weltweit "verbrannte Erde" hinterlässt sowie für
Krankheit, Tod und Aussterben von Menschen, Tieren
und Pflanzen verantwortlich ist. Das Funktionieren solch unbeherrschbarer
"höherer" Mächte wird mittels der
Gesellschaftstheorie Luhmanns vorgestellt und sodann mit der klassischen
Angelologie, hier in der Durchfüh-
rung des Mainzer Dogmatikers JOHANN BAPTIST HEINRICH (1884) in Beziehung
gebracht. Auch wenn
- wie R. selbst sagt - dies im Detail noch sehr viel genauer und durchdachter
erfolgen könnte, so ist dies doch
ein höchst aufschlussreiches, mit interessanten Denkanstößen
einhergehendes Verfahren. Natur, Bewegung, Ent-
stehung, Macht und vieles andere, wie es über die Engel, auch die
gefallenen, vor mehr als hundert Jahren be-
schrieben wurde, lässt sich überraschend gut mit "höheren
Mächten" in Verbindung bringen, wie wir sie tag-
täglich erleben.
Und was ermöglicht Erlösung aus dieser Gefangenschaft?
Ruster spricht von der "Tora" und einer "Umco-
dierung" bzw. "Umprogrammierung"; dort wo Menschen nach der
Tora leben, also dem gottgegebenen Ge-
bot entsprechen, ihn und nicht irgendwelche Götzen, an die Spitze
ihrer Zuneigung stellen, nur dort wird
heilvolles Leben nachhaltig möglich, nur dort werden die himmlischen
Mächte und Gewalten gebunden und
können kein Unheil gegen Mensch und Tier mehr ausrichten. Beispiele
hierfür sind für Ruster die vielfältigen
Versuche, ohne Zins zu wirtschaften, ökologisch nachhaltig produzierte
Waren zu kaufen, auf das Auto zu
verzichten und ähnliches. Hier wird das tora-geprägte Handeln
praktisch und R. benennt eine ganze Reihe von
Strategien, auf welche Weise dies Zug um Zug auch umgesetzt werden kann.
Das alternative Wirtschaften und
Leben der Mönche ist ihm ein gutes Beispiel solchen Lebens; überdies
- so erläutert R. - wiederspricht solches
durch die Tora geprägte Leben nicht der Vernunft des Menschen, sondern
kommt auf neue Weise mit dieser
zusammen.
Im Ganzen ist dies ein höchst interessanter und
- in diesen Zeiten - höchst wichtiger Beitrag in der Theologie.
Zur Himmelslehre oder Angelologie ist endlich ein neuer Zugang gefunden,
auch wenn dieser vielleicht noch
nicht jedem unmittelbar und allein aufgrund dieses Buches einzuleuchten
vermag. Offen bleibt allerdings aus
christlicher Sicht etwas allzu Wichtiges: die christologische Komponente
dieses theologischen Ansatzes. Bei
aller Hochschätzung der und Erlösungsfähigkeit durch die
Tora wird der christliche Leser dieser Engelslehre
intensiv auch danach fragen, welche Bedeutung Jesus Christus in dieser Konzeption
eingeräumt wird, ist er doch
nach christlichem - und von R. wohl zitiertem - Verständnis selbst
das "Haupt aller Mächte und Gewalten" (Kol
2,10).
Herbert Frohnhofen, 21. Juli 2007