Theologie-Systematisch
Eschatologie
§ 8. Gericht/Jüngster Tag
Texte

"Der Ausblick auf das Gericht hat die Christenheit von frühesten Zeiten an als Maßstab des gegenwärti-
gen Lebens, als Forderung an ihr Gewissen und zugleich als Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit bis in das
alltägliche Leben hinein bestimmt. Der Glaube an Christus hat nie nur nach rückwärts und nie nur nach
oben, sondern immer auch nach vorn, auf die Stunde der Gerechtigkeit hingeblickt, die der Herr wieder-
holt angekündigt hatte. Dieser Blick nach vorn hat dem Christentum seine Gegenwartskraft gegeben. In
 der Gestaltung der christlichen Kirchenbauten, die die geschichtliche und kosmische Weite des Christus-
Glaubens sichtbar machen wollten, wurde es üblich, an der Ostseite den königlich wiederkommenden
Herrn – das Bild der Hoffnung – darzustellen, an der Westseite aber das Weltgericht als Bild der Verant-
wortung unseres Lebens, das die Gläubigen gerade auf ihrem Weg in den Alltag hinaus anblickte und be-
gleitete. In der Entwicklung der Ikonographie des Gerichts ist dann freilich immer stärker das Drohende
und Unheimliche des Gerichts hervorgetreten, das die Künstler offenbar mehr faszinierte als der Glanz der
Hoffnung, die von der Drohung wohl oft allzu sehr verdeckt wurde.


42. In der Neuzeit verblaßt der Gedanke an das Letzte Gericht: Der christliche Glaube wird individualisiert
und ist vor allem auf das eigene Seelenheil ausgerichtet; die Betrachtung der Weltgeschichte wird statt
dessen weitgehend vom Fortschrittsgedanken geprägt. Dennoch ist der tragende Gehalt der Gerichtserwar-
tung nicht einfach verschwunden. Er nimmt nun freilich eine ganz andere Form an. Der Atheismus des
19. und des 20. Jahrhunderts ist von seinen Wurzeln und seinem Ziel her ein Moralismus: ein Protest ge-
gen die Ungerechtigkeiten der Welt und der Weltgeschichte. Eine Welt, in der ein solches Ausmaß an Un-
gerechtigkeit, an Leid der Unschuldigen und an Zynismus der Macht besteht, kann nicht Werk eines gu-
ten Gottes sein. Der Gott, der diese Welt zu verantworten hätte, wäre kein gerechter und schon gar nicht
ein guter Gott. Um der Moral willen muß man diesen Gott bestreiten. So schien es, da kein Gott ist, der
Gerechtigkeit schafft, daß nun der Mensch selbst gerufen ist, die Gerechtigkeit herzustellen. Wenn der
Protest gegen Gott angesichts der Leiden dieser Welt verständlich ist, so ist der Anspruch, die Menschheit
könne und müsse nun das tun, was kein Gott tut und tun kann, anmaßend und von innen her unwahr.
Daß daraus erst die größten Grausamkeiten und Zerstörungen des Rechts folgten, ist kein Zufall, sondern
in der inneren Unwahrheit dieses Anspruchs begründet. Eine Welt, die sich selbst Gerechtigkeit schaffen
muß, ist eine Welt ohne Hoffnung. Niemand und nichts antwortet auf das Leiden der Jahrhunderte. Nie-
mand und nichts bürgt dafür, daß nicht weiter der Zynismus der Macht, unter welchen ideologischen Ver-
brämungen auch immer, die Welt beherrscht. So haben die großen Denker der Frankfurter Schule, Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno Atheismus und Theismus gleichermaßen kritisiert. Horkheimer hat
radikal bestritten, daß irgendein immanenter Ersatz für Gott gefunden werden könne, zugleich freilich
auch das Bild des guten und gerechten Gottes abgelehnt. In einer äußersten Radikalisierung des alttesta-
mentlichen Bilderverbotes spricht er von der 'Sehnsucht nach dem ganz Anderen', das unnahbar bleibt –
ein Schrei des Verlangens in die Weltgeschichte hinein. Auch Adorno hat entschieden an dieser Bildlosig-
keit festgehalten, die eben auch das 'Bild' des liebenden Gottes ausschließt. Aber er hat auch und immer
wieder diese 'negative' Dialektik betont und gesagt, daß Gerechtigkeit, wirkliche Gerechtigkeit, eine Welt
verlangen würde, 'in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Ver-
gangene widerrufen wäre'.[Negative Dialektik (1966), Dritter Teil, III, 11, in: Gesammelte Schriften, Bd.
 VI, Frankfurt/Main 1973, 395
] Das aber würde – in positiven und darum für ihn unangemessenen Sym-
bolen ausgedrückt – heißen, daß Gerechtigkeit nicht sein kann ohne Auferweckung der Toten. Eine sol-
che Aussicht bedingte jedoch 'die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten
Geistes, ist sie ganz fremd'. [Ebd., Zweiter Teil, 207
]"

(P. Benedikt XVI., Enzyklika "Spe salvi" 41f
)


"Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu.
Das will sa
gen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in je-
dem ihrer Momente zitier
bar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke
wird zu einer citation l'ordre du jour -
welcher Tag eben der jüngste ist."

(W. BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte, These III, 694)

"Zu den eschatologischen Überzeugungen des Christentums gehört die Lehre
vom Welt
gericht. Die meisten stellen es sich als eine Art Obersten Strafgerichts-
hofes vor, der über
jeden einzelnen ein abschließendes und unanfechtbares Ur-
teil spricht.
Gericht
hat aber
etwas zu tun mit richtig werden lassen, ins Rechte
bringen. Man darf einmal darüber nach
denken, ob nicht sein eigentlicher In-
halt die Eröffnung des göttlichen Planes in und mit
der Schöpfung als eines
Heilsplanes sein könnte - inmitten und ungeachtet des Leides. Das
Weltgericht
ist dann Vollzug der Rechtfertigung Gottes wie auch der Menschen
."

(W. Beinert, Schuld im christlichen Verständnis, Erwägungen zu Theodizee und Anthro-
podizee und auch
zum Ablass, in: Chr. Böttigheimer/H. Filser (Hg.), Kircheneinheit und Weltverantwortung. Festschrift für Peter Neuner, Regensburg 2006, 117-139, 138)

"Man müsste das Ende des Lebenslaufes abwarten können und könnte in der
Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner
Teile feststellbar wäre. Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten,
um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen."

(Wilhelm Dilthey, Gesammelte Werke VII 233)