"Der Ausblick auf das Gericht
hat die Christenheit von frühesten Zeiten an als Maßstab des gegenwärti-
gen Lebens, als Forderung an ihr Gewissen und zugleich als Hoffnung auf
Gottes Gerechtigkeit bis in das
alltägliche Leben hinein bestimmt. Der Glaube an Christus hat nie nur
nach rückwärts und nie nur nach
oben, sondern immer auch nach vorn, auf die Stunde der Gerechtigkeit hingeblickt,
die der Herr wieder-
holt angekündigt hatte. Dieser Blick nach vorn hat dem Christentum
seine Gegenwartskraft gegeben. In
der Gestaltung der christlichen Kirchenbauten,
die die geschichtliche und kosmische Weite des Christus-
Glaubens sichtbar machen wollten, wurde es üblich, an der Ostseite
den königlich wiederkommenden
Herrn – das Bild der Hoffnung – darzustellen, an der Westseite aber das
Weltgericht als Bild der Verant-
wortung unseres Lebens, das die Gläubigen gerade auf ihrem Weg in den
Alltag hinaus anblickte und be-
gleitete. In der Entwicklung der Ikonographie des Gerichts ist dann freilich
immer stärker das Drohende
und Unheimliche des Gerichts hervorgetreten, das die Künstler offenbar
mehr faszinierte als der Glanz der
Hoffnung, die von der Drohung wohl oft allzu sehr verdeckt wurde.
42. In der Neuzeit verblaßt der Gedanke
an das Letzte Gericht: Der christliche Glaube wird individualisiert
und ist vor allem auf das eigene Seelenheil ausgerichtet; die Betrachtung
der Weltgeschichte wird statt
dessen weitgehend vom Fortschrittsgedanken geprägt. Dennoch ist der
tragende Gehalt der Gerichtserwar-
tung nicht einfach verschwunden. Er nimmt nun freilich eine ganz andere
Form an. Der Atheismus des
19. und des 20. Jahrhunderts ist von seinen Wurzeln und seinem Ziel her
ein Moralismus: ein Protest ge-
gen die Ungerechtigkeiten der Welt und der Weltgeschichte. Eine Welt, in
der ein solches Ausmaß an Un-
gerechtigkeit, an Leid der Unschuldigen und an Zynismus der Macht besteht,
kann nicht Werk eines gu-
ten Gottes sein. Der Gott, der diese Welt zu verantworten hätte, wäre
kein gerechter und schon gar nicht
ein guter Gott. Um der Moral willen muß man diesen Gott bestreiten.
So schien es, da kein Gott ist, der
Gerechtigkeit schafft, daß nun der Mensch selbst gerufen ist, die
Gerechtigkeit herzustellen. Wenn der
Protest gegen Gott angesichts der Leiden dieser Welt verständlich ist,
so ist der Anspruch, die Menschheit
könne und müsse nun das tun, was kein Gott tut und tun kann, anmaßend
und von innen her unwahr.
Daß daraus erst die größten Grausamkeiten und Zerstörungen
des Rechts folgten, ist kein Zufall, sondern
in der inneren Unwahrheit dieses Anspruchs begründet. Eine Welt, die
sich selbst Gerechtigkeit schaffen
muß, ist eine Welt ohne Hoffnung. Niemand und nichts antwortet auf
das Leiden der Jahrhunderte. Nie-
mand und nichts bürgt dafür, daß nicht weiter der Zynismus
der Macht, unter welchen ideologischen Ver-
brämungen auch immer, die Welt beherrscht. So haben die großen
Denker der Frankfurter Schule, Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno Atheismus und Theismus gleichermaßen
kritisiert. Horkheimer hat
radikal bestritten, daß irgendein immanenter Ersatz für Gott
gefunden werden könne, zugleich freilich
auch das Bild des guten und gerechten Gottes abgelehnt. In einer äußersten
Radikalisierung des alttesta-
mentlichen Bilderverbotes spricht er von der 'Sehnsucht nach dem ganz Anderen',
das unnahbar bleibt –
ein Schrei des Verlangens in die Weltgeschichte hinein. Auch Adorno hat
entschieden an dieser Bildlosig-
keit festgehalten, die eben auch das 'Bild' des liebenden Gottes ausschließt.
Aber er hat auch und immer
wieder diese 'negative' Dialektik betont und gesagt, daß Gerechtigkeit,
wirkliche Gerechtigkeit, eine Welt
verlangen würde, 'in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern
noch das unwiderruflich Ver-
gangene widerrufen wäre'.[Negative Dialektik (1966), Dritter Teil,
III, 11, in: Gesammelte Schriften, Bd.
VI, Frankfurt/Main 1973, 395] Das aber würde – in positiven und darum für
ihn unangemessenen Sym-
bolen ausgedrückt – heißen, daß Gerechtigkeit nicht sein
kann ohne Auferweckung der Toten. Eine sol-
che Aussicht bedingte jedoch 'die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus,
dem Reich des absoluten
Geistes, ist sie ganz fremd'. [Ebd., Zweiter Teil, 207]"
(P.
Benedikt XVI., Enzyklika
"Spe salvi" 41f)
"Freilich fällt
erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu.
Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre
Vergangenheit in je-
dem ihrer Momente zitierbar
geworden. Jeder ihrer
gelebten Augenblicke
wird zu einer citation l'ordre du jour - welcher Tag eben der jüngste ist."