Theologie-Systematisch
Eschatologie
§ 6. Läuterung/Zwischenzustand
Texte


"45. Diese frühjüdische Vorstellung vom Zwischenzustand schließt die Auffassung ein, daß die Seelen
nicht einfach nur in einer vorläufigen Verwahrung weilen, sondern schon Strafe erfahren, wie es das
Gleichnis vom reichen Prasser zeigt, oder aber auch schon vorläufige Formen der Seligkeit empfangen.
Und endlich fehlt nicht der Gedanke, daß es in diesem Zustand auch Reinigungen und Heilungen geben
kann, die die Seele reif machen für die Gemeinschaft mit Gott. Die frühe Kirche hat solche Vorstellungen
aufgenommen, aus denen sich dann in der Kirche des Westens allmählich die Lehre vom Fegefeuer gebil-
det hat. Wir brauchen hier nicht auf die komplizierten historischen Wege dieser Entwicklung zu blicken;
fragen wir einfach danach, worum es in der Sache geht. Die Lebensentscheidung des Menschen wird mit
dem Tod endgültig – dieses sein Leben steht vor dem Richter. Sein Entscheid, der im Lauf des ganzen Le-
bens Gestalt gefunden hat, kann verschiedene Formen haben. Es kann Menschen geben, die in sich den
Willen zur Wahrheit und die Bereitschaft zur Liebe völlig zerstört haben. Menschen, in denen alles Lüge
geworden ist; Menschen, die dem Haß gelebt und die Liebe in sich zertreten haben. Dies ist ein furchtba-
rer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen in erschreckender Weise solche
Profile erkennen. Nichts mehr wäre zu heilen an solchen Menschen, die Zerstörung des Guten unwider-
ruflich: Das ist es, was mit dem Wort Hölle [Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1033-1037]
bezeichnet wird. Auf der anderen Seite kann es ganz reine Menschen geben, die sich ganz von Gott haben
durchdringen lassen und daher ganz für den Nächsten offen sind – Menschen, in denen die Gottesge-
meinschaft jetzt schon all ihr Sein bestimmt und das Gehen zu Gott nur vollendet, was sie schon sind.
 [Vgl. ebd., Nr. 1023-1029.
]

46. Aber weder das eine noch das andere ist nach unseren Erfahrungen der Normalfall menschlicher Ex-
istenz. Bei den allermeisten – so dürfen wir annehmen – bleibt ein letztes und innerstes Offenstehen für
die Wahrheit, für die Liebe, für Gott im tiefsten ihres Wesens gegenwärtig. Aber es ist in den konkreten
Lebensentscheidungen überdeckt von immer neuen Kompromissen mit dem Bösen – viel Schmutz verdeckt
das Reine, nach dem doch der Durst geblieben ist und das doch auch immer wieder über allem Niedrigen
hervortritt und in der Seele gegenwärtig bleibt. Was geschieht mit solchen Menschen, wenn sie vor den
Richter hintreten? Ist all das Unsaubere, das sie in ihrem Leben angehäuft haben, plötzlich gleichgültig?
Oder was sonst? Der heilige Paulus gibt uns im Ersten Korinther-Brief eine Vorstellung von der unter-
schiedlichen Weise, wie Gottes Gericht auf den Menschen je nach seiner Verfassung trifft. Er tut es in
Bildern, die das Unanschaubare irgendwie ausdrücken wollen, ohne daß wir diese Bilder auf den Begriff
bringen könnten – einfach weil wir in die Welt jenseits des Todes nicht hineinschauen können und von
ihr keine Erfahrung haben. Zunächst sagt Paulus über die christliche Existenz, daß sie auf einen gemein-
samen Grund gebaut ist: Jesus Christus. Dieser Grund hält stand. Wenn wir auf diesem Grund stehenge-
blieben sind, auf ihm unser Leben gebaut haben, wissen wir, daß uns auch im Tod dieser Grund nicht
 mehr weggezogen werden kann. Dann fährt Paulus weiter: 'Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold,

Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar wer-
den; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das
Werk eines jeden taugt. Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder,
dann muß er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch'
(3, 12-15). In diesem Text zeigt sich auf jeden Fall, daß die Rettung der Menschen verschiedene Formen
haben kann; daß manches Aufgebaute niederbrennen kann; daß der zu Rettende selbst durch 'Feuer'
hindurchgehen muß, um endgültig gottfähig zu werden, Platz nehmen zu können am Tisch des ewigen
Hochzeitsmahls.

47. Einige neuere Theologen sind der Meinung, daß das verbrennende und zugleich rettende Feuer Chris-
 tus ist, der Richter und Retter. Das Begegnen mit ihm ist der entscheidende Akt des Gerichts. Vor seinem

Anblick schmilzt alle Unwahrheit. Die Begegnung mit ihm ist es, die uns umbrennt und freibrennt zum
 Eigentlichen unserer selbst. Unsere Lebensbauten können sich dabei als leeres Stroh, als bloße Großtuerei

erweisen und zusammenfallen. Aber in dem Schmerz dieser Begegnung, in der uns das Unreine und
Kranke unseres Daseins offenbar wird, ist Rettung. Sein Blick, die Berührung seines Herzens heilt uns in
 einer gewiß schmerzlichen Verwandlung 'wie durch Feuer hindurch'. Aber es ist ein seliger Schmerz, in
dem die heilige Macht seiner Liebe uns brennend durchdringt, so daß wir endlich ganz wir selber und da- 

durch ganz Gottes werden. So wird auch das Ineinander von Gerechtigkeit und Gnade sichtbar: Unser Le-
ben ist nicht gleichgültig, aber unser Schmutz befleckt uns nicht auf ewig, wenn wir wenigstens auf
Christus, auf die Wahrheit und auf die Liebe hin ausgestreckt geblieben sind. Er ist im Leiden Christi
letztlich schon verbrannt. Im Augenblick des Gerichts erfahren und empfangen wir dieses Übergewicht
seiner Liebe über alles Böse in der Welt und in uns. Der Schmerz der Liebe wird unsere Rettung und un-
sere Freude. Es ist klar, daß wir die 'Dauer' dieses Umbrennens nicht mit Zeitmaßen unserer Weltzeit mes-

sen können. Der verwandelnde 'Augenblick' dieser Begegnung entzieht sich irdischen Zeitmaßen – ist Zeit
des Herzens, Zeit des 'Übergangs' in die Gemeinschaft mit Gott im Leibe Christi.[Vgl. Katechismus der

Katholischen Kirche, Nr. 1030-1032] Das Gericht Gottes ist Hoffnung, sowohl weil es Gerechtigkeit wie-
wohl weil es Gnade ist. Wäre es bloß Gnade, die alles Irdische vergleichgültigt, würde uns Gott die Frage
nach der Gerechtigkeit schuldig bleiben – die für uns entscheidende Frage an die Geschichte und an Gott
selbst. Wäre es bloße Gerechtigkeit, würde es für uns alle am Ende nur Furcht sein können. Die Mensch-
werdung Gottes in Christus hat beides – Gericht und Gnade – so ineinandergefügt, daß Gerechtigkeit her-
gestellt wird: Wir alle wirken unser Heil 'mit Furcht und Zittern' (Phil 2, 12). Dennoch läßt die Gnade
uns alle hoffen und zuversichtlich auf den Richter zugehen, den wir als unseren 'Advokaten', parakletos,
kennen (vgl. 1 Joh 2, 1).

48. Noch ein Motiv muß hier Erwähnung finden, weil es für die Praxis christlichen Hoffens Bedeutung
hat. Wiederum schon im Frühjudentum gibt es den Gedanken, daß man den Verstorbenen in ihrem Zwi--
schenzustand durch Gebet zu Hilfe kommen kann (z.B. 2 Makk 12, 38- 45; 1. Jahrhundert v. Chr.). Die
entsprechende Praxis ist ganz selbstverständlich von den Christen übernommen worden, und sie ist der
Ost- und Westkirche gemeinsam. Der Osten kennt kein reinigendes und sühnendes Leiden der Seelen im
'Jenseits', wohl aber verschiedene Stufen der Seligkeit oder auch des Leidens im Zwischenzustand. Den
Seelen der Verstorbenen kann aber durch Eucharistie, Gebet und Almosen 'Erholung und Erfrischung'
geschenkt werden. Daß Liebe ins Jenseits hinüberreichen kann, daß ein beiderseitiges Geben und Nehmen
möglich ist, in dem wir einander über die Grenze des Todes hinweg zugetan bleiben, ist eine Grundüber-
zeugung der Christenheit durch alle Jahrhunderte hindurch gewesen und bleibt eine tröstliche Erfahrung
auch heute. Wer empfände nicht das Bedürfnis, seinen ins Jenseits vorangegangenen Lieben ein Zeichen
der Güte, der Dankbarkeit oder auch der Bitte um Vergebung zukommen zu lassen? Nun könnte man wei-
terfragen: Wenn das 'Fegefeuer' einfach das Reingebranntwerden in der Begegnung mit dem richtenden
und rettenden Herrn ist, wie kann dann ein Dritter einwirken, selbst wenn er dem anderen noch so nahe-
steht? Bei solchem Fragen sollten wir uns klarmachen, daß kein Mensch eine geschlossene Monade ist.
Unsere Existenzen greifen ineinander, sind durch vielfältige Interaktionen miteinander verbunden. Keiner
lebt allein. Keiner sündigt allein. Keiner wird allein gerettet. In mein Leben reicht immerfort das Leben
anderer hinein: in dem, was ich denke, rede, tue, wirke. Und umgekehrt reicht mein Leben in dasjenige
 anderer hinein: im Bösen wie im Guten. So ist meine Bitte für den anderen nichts ihm Fremdes, nichts

Äußerliches, auch nach dem Tode nicht. In der Verflochtenheit des Seins kann mein Dank an ihn, mein
 Gebet für ihn ein Stück seines Reinwerdens bedeuten. Und dabei brauchen wir nicht Weltzeit auf Gottes-

zeit umzurechnen: In der Gemeinschaft der Seelen wird die bloße Weltzeit überschritten. An das Herz des
 anderen zu rühren, ist nie zu spät und nie vergebens. So wird ein wichtiges Element des christlichen Be-

griffs von Hoffnung nochmals deutlich. Unsere Hoffnung ist immer wesentlich auch Hoffnung für die
 anderen; nur so ist sie wirklich auch Hoffnung für mich selbst.[Vgl. Katechismus der Katholischen Kir-
che, Nr. 1032
] Als Christen sollten wir uns nie nur fragen: Wie kann ich mich selber retten? Sondern
auch: Wie kann ich dienen, damit andere gerettet werden und daß anderen der Stern der Hoffnung auf-
 
geht? Dann habe ich am meisten auch für meine eigene Rettung getan."

(P. Benedikt XVI., Enzyklika "Spe salvi" 45-48)