Johann Gerhard, Tractatus
de legitima scripturae sacrae interpretatione (1610).
Lateinisch-deutsch, hg.v. Johann Anselm Steiger
(Doctrina et pietas. Abteilung I:
Johann-Gerhard-Archiv 13) Stuttgart-Bad Cannstatt 2007;
Mit diesem 13. Band aus dem Johann-Gerhard Archiv der
aufwändig gestalteten Reihe "Doctrina et pietas" e-
diert der an der Universität Hamburg tätige Kirchen- und Dogmenhistoriker
Johann Anselm
Steiger erneut eine
zentrale Schrift des bedeutenden Vertreters lutherischer Orthodoxie
Johann Gerhard. Hierbei,
so der Herausge-
ber in seinem
"Editorischen Bericht" wurden als
"Leittexte"
sowohl für den lateinischen als auch für den deut-
schen Text die jeweiligen Erstdrucke gewählt. Spätere Ausgaben
wurden zur Absicherung herangezogen (485).
Die Schrift selbst wurde vom Autor bereits im Alter von 27 Jahren, rund
fünf Jahre nach seiner Promotion zum
Doktor der Theologie veröffentlicht. Der Tractatus ist nach Auskunft
Steigers
"Gerhards erste größere Veröf-
fentlichung zu einem fundamental-theologischen Thema. Zugleich handelt
es sich um einen grundlegenden her-
meneutischen Entwurf, der den Anspruch erhebt, ein wissenschaftlich fundiertes
Regelwerk darzubieten für all
diejenigen, die die Kunst der Auslegung der Heiligen Schrift erlernen und
ausüben wollen" (488). Neben den
"Philologia Sacra" seines Lieblingsschülers Salomon Glassius dürfte
der vorliegende Tractatus
"die verbreitet-
ste bibel-hermeneutische Schrift des barocken Luthertums" sein, er erfuhr
"eine starke Verbreitung, weit über
die Grenzen lutherischer Territorien hinaus" sein (489).
Inhaltlich beginnt Gerhard mit der Feststellung, dass
die Heilige Schrift im Großen und Ganzen zwar so gut
von allen Lesenden zu verstehen sei, dass ihnen hieraus der Gewinn der ewigen
Seligkeit möglich sei, dass je-
doch etliche Stellen nicht unmittelbar den Lesenden verständlich seien.
In Auseinandersetzung mit Nikolaus von
Kues und Robert Bellarmin vertritt er die Auffassung, dass nicht das kirchliche
Lehramt, insbesondere der
Papst, diese Stellen und die Schrift als ganze authentisch auslegen könne,
sondern jeder einzelne Gläubige, frei-
lich - so ausdrücklich im Anschluss an Luther - allein durch die Erleuchtung
des Heiligen Geistes. Nachdem
hierzu zahlreiche Belege von frühchristlichen Autoren angeführt
wurden, resümiert Gerhard, dass (1) die Heili-
ge Schrift ohne Erleuchtung durch den Heiligen Geist nicht zu verstehen
sei, (2) nicht alle Menschen durch den
Hl. Geist entsprechend erleuchtet würden, (3) die Erleuchtung durch
den Hl. Geist durch das Gebet gesucht
werden müsse und (4) durch das Wort gegeben werde, (5) alles zur Seligkeit
Notwendige in den hellen und kla-
ren Stellen der Schrift verfasst sei, (6) von diesen hellen und klaren Stellen
aus auch die dunklen erhellt und
verstehbar würden, (7) auch die Regeln des Glaubens zum Verstehen der
Schrift herangezogen würden, (8)
mindestens nicht gegen die Regeln des Glaubens verstoßen werden dürfe,
(9) das Bemühen um das Verstehen
auch der dunklen Stellen notwendig sei, (10) der Ursprung der Finsternis
jener dunklen Stellen zu eruieren sei,
(11) die Inbezugsetzung verschiedener dunkler Stellen miteinander hilfreich
sein könne, (12) Sachfragen sich
durch die Regeln des Glaubens klären ließen während (13)
sprachliche Probleme mit den Mitteln der Gramma-
tik, Rhetorik, Dialektik und Physik bearbeitet werden sollten (Kap. 71/113f).
In der Folge diskutiert Gerhard erneut Auslegungsprinzipien der Heiligen
Schrift, wie sie von durch ihn soge-
nannten "Papisten" formuliert werden; Thomas Stapleton spielt dabei
eine besondere Rolle. Ihnen wirft er - un-
ter erneuter Zuhilfenahme zahlreicher Zitate altkirchlicher Autoren - vor
allem vor, dass sie "zur Schrifft die
Traditiones oder Menschensatzungen (setzen), welche sie in gleicher Würde
vnd gleichem Werth mit der Schrifft
achten" (Kap. 78/S. 123). Demgegenüber sei es bedeutsam, "daß
die Christliche Kirche der Schrifft vnd nicht
die Schrifft der Kirchen vnterworffen sey" (Kap. 79/S. 123). Die weitere
Argumentation faltet dies noch weiter
aus. - Im Ganzen schauen wir auf ein Werk, das protestantische Auslegungsprinzipien
in Bezug auf die Heilige
Schrift höchst gelehrt und mit vielfältigen Hinweisen auf altkirchliche
und zeitgenössische Autoren entwickelt
und darstellt. Dem Herausgeber ist dafür zu danken, dass er dieses wichtige
und für das Verständnis der refor-
matorischen Theologie so wichtige Werk wieder einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich gemacht hat.
Herbert Frohnhofen, 1. Oktober 2008