Thomas Ruster, Der verwechselbare
Gott.
Theologie nach der Entflechtung
von Christentum und Religion
(Quaestiones Disputatae 181) Freiburg
2000;
Darstellung der Argumentation, Herbert
Frohnhofen, 14.11.2001
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I. Systematischer Ausgangspunkt der Überlegungen
Rusters ist, daß es in jeder Gesellschaft zu jeder
Zeit ein Phänomen,
einen
>Götzen<, einen >Gott< oder
wie immer gibt, der von der überwältigenden
Mehrheit der Gesellschaft
als >alles bestimmende
Wirklichkeit< anerkannt wird und dem deshalb
ent-
sprechende >Opfer< dargebracht werden. Die Möglichkeit etwa,
daß es in
einer Gesellschaft auch mit-
einander konkurrierende,
vielleicht sogar gleichermaßen erfolgreiche >Götter< oder
>Götzen< gibt,
wird von Ruster nicht erwogen. Dies würde aber
seine weitere Argumentation infrage stellen.
II. Als >Religion< einer Gesellschaft gilt nun
für Ruster jene Weltanschauung, die sich in dieser Gesell-
schaft zu
einer bestimmten Zeit auf die anerkannte >alles bestimmende Wirklichkeit<
bezieht. Dies hat
zur Konsequenz, daß eine bestimmte Weltanschauung nur zu bestimmter Zeit und an bestimmtem
Ort
>Religion< ist bzw. sein kann, zu anderer Zeit und an anderem Ort jedoch nicht. (Dies ist eine sehr ei-
genwillige und
religionswissenschaftlich wohl singuläre Verwendung des Wortes >Religion<.
An vie-
len Stellen benützt R. dann auch einen
viel geläufigeren Begriff von >Religion<, den er selbst so be-
stimmt:
"wo eine Institution, eine Bewegung, eine Glaubensrichtung
angibt, mit einer ... letzten Wirk-
lichkeit zu tun zu haben, da handelt
es sich
um eine Religion" (10). Beide Bedeutungen
werden dann
sehr verwirrend durcheinander verwendet).
III. Punktuell wird dabei das Religion-Sein einer
Weltanschauung sogar selbst unter Verdacht gestellt;
denn: "Insofern
Religion mit... Unentrinnbarkeit zu tun hat, sollte
sich das Christentum nicht... den Re-
ligionen zuzählen" (3). Dem
Christentum
wird also davon abgeraten, überhaupt irgendwo
und irgend-
wann Religion sein zu wollen.
IV. In unserer westeuropäischen Kultur ist der
christliche Glaube "über den längsten Zeitraum des
Christentums
hinweg"(7)
Religion gewesen. Denn das Christentum "vermochte
die Erfahrungen
begegnender Macht mit dem Gottesverständnis zu verbinden" (11). Während dieser Zeit habe
die
Tatsache, daß das christliche Gottesbild gleichzeitig dasjenige
der alles bestimmenden Wirklichkeit
gewesen sei, dazu geführt,
daß einige Elemente des biblischen Gottesverständnisses verborgen
ge-
blieben seien (7), daß also - anders gesagt - der gesellschaftliche
Erfolg des Christentums sein Got-
tesverständnis korrumpiert habe: "die
Rede von der Allmacht und der Absolutheit Gottes
speiste sich
... aus den Analogien mit dem als mächtig Erfahrenen.
Könige
und Kaiser übten Herrschaft von
Gottes Gnaden
aus, Gott galt als Herr der Naturgewalten, die Geschicke der Völker
lagen in
sei-
ner Hand, seiner Hilfe vergewisserte man sich
für die Gewalt der Waffen. Gesellschaftliche Über-
und Unterordnungen
wurden religiös, im Blick auf die göttliche
Weltordnung begründet, und uner-
messlich sind die Wirkungen der Verkoppelung
zwischen psychischen Energien und Gottesglaube.
Tatsächlich ist die ganze christlich geprägte Kultur von den
Analogien zwischen
dem oder den of-
fenbar Mächtigen und der
unsichtbaren Macht Gottes durchdrungen. Im Rückblick erscheint es
als
die erstaunlichste Leistung christlicher Gotteslehre, den
Gott Israels, der als Gott eines kleinen
machtlosen Volkes und eines Gekreuzigten
in die Geschichte getreten war, in jeder Epoche
neu als
äußerste Steigerung und Überbietung der wechselnden
weltlichen Wahrnehmungen des Mächtigen
ausweisen zu können.
Wenn sich kein direkter Weg von der Erfahrung der Mächte zu Gott finden
ließ, war die Rede von satanischen Gegenmächten
zu Gott angezeigt; aber auch die Macht des Sa-
tans stand zuletzt unter der
Gottes. Dass Gott ein allmächtiges Wesen
sei, ist, so scheint es, zumeist
für dem Christentum entfremdete Menschen
das Einzige, was von ihrem Wissen von Gott zurückge-
blieben
ist - und häufig der Grund dafür, dass sie mit diesem Gott nichts
mehr anfangen können"
(11f). Diese Korrumpierung
des christlichen Gottesverständnisses durch seinen gesellschaftlichen
Erfolg sei
nicht zwangsläufig (13), aber faktisch geschehen.
V. Heute nun habe das Christentum bei uns die Position
verloren, Religion im oben erstgenannten
Sinne zu sein; dies wird
von Ruster die >Entflechtung von Christentum und
Religion< genannt. An
dessen Stelle seien die >alten Götter und
Dämonen< getreten: "Sie haben heute in Gestalt
unentrinn-
barer ökonomischer Zwänge... ihre Herrschaft errichtet"
(3), und zwar
in der Weltanschauung des
Kapitalismus. Die genannte
Unentrinnbarkeit sei so umfassend, "daß auch wir Christen unter der
Macht des Geldes längst (Heiden) geworden sind"
(3). R. schließt hiermit ausdrücklich an Walter
Benjamin an,
der bereits
1921 formulierte, "im Kapitalismus (sei) eine
Religion zu erblicken" (13).
Als Konsequenz hieraus bekomme das Christentum "freie Hand, den Glauben an Gott als Erlösung
von dieser Macht (gemeint ist die "Immer-schon-Macht der letzten Wirklichkeit, die auf uns lastet")
zu verkünden"
(14).
VI. Um dies zu tun (von wem bleibt allerdings unklar,
da wir doch angeblich alle >Heiden< geworden
sind) sei wieder stärker
auf jene Elemente des biblischen Gottesverständnisses
zurückzugreifen, die in
der oben genannten Phase verborgen geblieben
seien, nämlich jene "Elemente, die sich
der Welt und
den in ihr herrschenden Mächten gegenüber fremd
verhalten, und den
Gott, der von diesen Elemen-
ten her gedacht wird,
nenne ich den ‚fremden Gott‘. Ihm heute eine ‚Apologie‘ zu widmen, ihn
gegen
die Versuche zu verteidigen, Gott und alles
bestimmende Wirklichkeit weiterhin zusammenzudenken,
halte ich für
einen wichtigen theologischen Beitrag um das, was
uns letztlich bestimmt und beherrscht
- und dies ist der Streit um die
Zukunft" (7f). Ja es gilt für R. mit Verweis
auf K. Barth: "Der biblische
Gott muss aus der Umklammerung gelöst
werden, in der
ihn die Zuordnung des Attributs ‚christlich‘
zum Hauptwort ‚Religion‘ lange Zeit hielt" (20f). Insbesondere etwa:
"Die Ineinssetzung von Gott und
Allmacht und die Beschreibung
dieser Allmacht nach den Analogien weltlicher Herrschaft forderten die
Verwechslung Gottes geradezu heraus." (25)
VII. Infragezustellen sei hierzu die gesamte Tradition
der sog. "natürlichen Theologie" (vom Römer-
brief über Justin,
Anselm,
Thomas, dem I. und II. Vatikanum bis hin zu Karl
Rahner) sowie deren Be-
mühen, die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes
als
eine jedem Menschen allein aufgrund seiner Ge-
schöpflichkeit
gegebenen Fähigkeit darzustellen. Nach R. gilt: Die "natürliche
Theologie wird einer-
seits überflüssig,
weil sie nicht mehr dem Christentum als der herrschenden Religion zuarbeiten
muss,
andererseits ist sie auch nicht mehr möglich,
weil von den Wirkungen der höchsten Macht nicht mehr
auf den Gott
des christlichen Glaubens zurückgeschlossen werden
kann. Die dominierende Linie der
christlichen Gotteslehre kann und braucht
deshalb heute nicht mehr weitergeführt zu werden."
(16f)
VIII. Im Anschluß an M. Douglas Meeks seien
auch eine Reihe von Gottesvorstellungen kritisch zu be-
trachten, die sich
aufgrund der Verbindung von christlichem Gottesglauben
mit den "Formen des ökono-
mischen Ethos, das in den USA herrscht"
(22) heute ergeben hätten: nämlich Gott
als "das eine, unwan-
delbare, bedürfnislose und leidensunfähige
Wesen" zu denken
(22), die Vorstellung vom "Heiligen Geist
ohne
Gott" (22) sowie das im Kapitalismus und auch Sozialismus herrschende
"Dogma der Knappheit"
(23).
IX. Demgegenüber müsse heute auf jene Tradition
(genannt werden: 1 Petr, Pascal, Markion, Luther,
Harnack und Hünermann) zurückgegriffen werden, "die das Besondere,
Neue und Fremde des bibli-
schen Gottes in den Mittelpunkt rückte. Sie
läßt sich meistens nur in Außenseitern
greifen, denn sie
hatte in den Zeiten des Christentums als der herrschenden
Religion
einen schweren Stand" (17). Es
ist dies die
Tradition des >fremden Gottes< bzw. der >negativen Theologie<.
X. Dies alles bringe für die Religionspädagogik
die weitere Konsequenz mit sich, daß nicht mehr - wie
in der Vergangenheit
praktiziert - an den konkreten Erfahrungen der Schülerinnen
und Schüler ange-
knüpft werden könne (Stichworte sind: Korrelations- und Symboldidaktik), sondern stattdessen
die Schü-
lerinnen und Schüler durch Erzählen der biblischen
Geschichten
mit dem fremdgewordenen Gott der Bi-
bel konfrontiert
werden sollen, damit von diesem Gottesbild der Bibel aus die (bzw.
ihre) Götzen der Gegenwart (d.s. der Kapitalismus
und das Geld) kritisierbar und als Götzen durchschaubar werden.