So einleuchtend und naheliegend die Grundthesen
des Buches zunächst auch erscheinen mögen, so zweifelhaft
und kritikbedürftig ist die Erläuterung und Begründung dieser
Thesen im Detail. Dazu einige Anmerkungen:
1. Die uneinheitliche und deshalb verwirrende Verwendung des Religionsbegriffs
Ruster sagt: Angesichts der Tatsache, daß
es in der Religionswissenschaft eine konsensfähige, allgemein ak-
zeptierte Definition des Religionsbegriffs nicht gebe (S. 8), gehe er von
dem „im interreligiösen Dialog stets
vorausgesetzte(n) und auch alltagssprachlich gegebene(n) gemeinsame(n) Begriffsinhalt
von Religion“ aus;
dieser liege „in der Beziehung auf eine letztlich bestimmende, dem menschlichen
Verfügen entzogene, also
unbedingte und unverfügbare Wirklichkeit“ (9). Diese alles „bestimmende
Wirklichkeit, >ultimate reality<„
fungiere „hier als Oberbegriff für das Göttliche, das in den
verschiedenen Religionen andere Namen tragen
oder auch unbenannt bleiben“ könne (9).
Meine Kritik: Dies ist wohl eine den allgemeinen
Konsens inbezug auf den Religionsbegriff weitgehend zu-
treffend beschreibende Erläuterung. Hinderlich ist aber die ungenaue
Formulierungsweise. Erstens ist nicht
klar, wer sich auf die >unbedingte Wirklichkeit< bezieht. Zweitens
werden die Begriffe "unbedingte", "un-
verfügbare", „letztlich bestimmende“ und schließlich „alles bestimmende“
Wirklichkeit anscheinend als sy-
nonym miteinander verwendet, ohne sie letztlich zu erläutern und zu
beachten, daß die Ausdrücke Unter-
schiedliches meinen und betonen könnten.
Ruster: In Abweichung von dieser allgemeinen, ohnehin
bereits mehrdeutigen, zumindest unklaren Begriffs-
bestimmung von Religion, spricht R. danach von einem „funktionalistischen
Religionsbegriff“, inbezug auf
den „der konstitutive Bezug des Religiösen auf eine letzte unverfügbare
Wirklichkeit erhalten“ bleibe (10).
Religion erfülle ihre Funktion, „Ich-Stärke und Individualität
auszubilden, Erfahrungen von Leid, Unrecht
und Schuld verarbeiten zu können, in außeralltäglichen Situationen
Orientierung zu geben, ein geordnetes,
erschütterungsfestes Bild der Welt auszubilden und gemeinschaftstragende
Werte bereitzustellen, die soziale
Integration bewirken“, nur „im Blick auf eine die Welt umgreifende
und erhaltende Wirklichkeit, die den
einzelnen und die Gemeinschaften trägt und die Kontingenzen des Daseins
aushalten läßt“ (11).
Meine Kritik: Unklar ist hier, was mit dem „konstitutiven
Bezug des Religiösen“ gemeint sein soll. Wenn
auch schon in der obigen Erläuterung nicht gesagt wurde, wer sich auf
die „alles bestimmende Wirklichkeit“
bezieht, damit von Religion die Rede sein kann, so war doch zu vermuten,
daß Menschen gemeint sind. Daß
nun hingegen vom „konstitutiven Bezug des Religiösen“ auf die
alles bestimmende Wirklichkeit die Rede ist,
verunklart und läßt absolut offen, wer oder was gemeint ist.
Ruster: Das Christentum, so wird nun behauptet,
sei „die meiste Zeit seiner Geschichte in diesem Sinne Reli-
gion (gewesen) und (habe)... die Funktionen einer Religion erfüllen können,
denn es vermochte die Erfahrun-
gen begegnender Macht mit dem Gottesverständnis zu verbinden“ (11).
Meine Kritik: Hier wird die Aussage nun besonders
unklar und unübersichtlich. Welches >Christentum< ist ge-
meint: das ganze, weltweit, in allen Konfessionen und Gestalten? Aus dem
Kontext vermutlich doch eher das in
Westeuropa, aber es wird nicht gesagt. Noch unklarer ist freilich, wieso
das Christentum nur „die meiste Zeit
seiner Geschichte in diesem Sinne Religion“ gewesen sei und „die Funktionen
einer Religion (habe) erfüllen
können“. Ungesagt wird jetzt offenbar vorausgesetzt, daß nur
jene Religion tatsächlich als Religion zu bezeich-
nen sei bzw. die Funktionen einer Religion erfülle, welche eine gesellschaftlich
vorherrschende Akzeptanz hat.
Diese unter der Hand eingeführte Einschränkung des Religionsbegriffs,
mit welcher im folgenden des Buches
ständig operiert wird, wird an keiner Stelle des Buches explizit eingeführt
oder gar motivierend erläutert. Sie
entspricht überdies auch nicht dem von R. selbst angesprochenen Sprachgebrauch.
Die Tatsache, inwieweit ei-
ne Religion in einer Gesellschaft akzeptiert wird oder gar ein Monopol hat,
bedingt weder im allgemeinen noch
im wissenschaftlich Sprachgebrauch, daß sie überhaupt eine Religion
genannt wird.
2. Die Verwechslung der Glaubens- bzw. Vermittlungs- mit der systematisch-theologischen Ebene
Ruster: Während also, so die weitere Argumentation,
„es der Theologie über den längsten Zeitraum des Christen-
tums hinweg gelungen (sei)..., das Gottesverständnis mit der Erfahrung
der alles bestimmenden Wirklichkeit über-
einzubringen,“ gelinge ihr das heute nicht mehr. „Das, was tatsächlich
als die Wirklichkeit letztlich bestimmend
wahrgenommen (werde)..., (finde)... heute andere Symbolisierungen und Repräsentationen
als den christlichen
Gottesbegriff.“ (7)
Meine Kritik: Auch hier besteht erhebliche Unklarheit
und gedankliches Durcheinander. Wenn es auch tatsächlich
einerseits so sein mag, daß für viele Zeitgenossen in unserer Gesellschaft
das christliche Gottesverständnis mit ihrer
Erfahrung der alles bestimmenden Wirklicheit nicht (mehr) in Übereinstimmung
zu bringen ist, so heißt dies nicht,
daß dies auch für die den Gottesbegriff explizierende Theologie
oder die Theologen ein theoretisches Problem sein
muß. Freilich sind Fragen der Vermittlung resp. der Religionspädagogik
ggf. in erheblicher Weise betroffen.
Ruster: „Die Veränderung im Verhältnis
zwischen Gottesverständnis und Erfahrung des schlechthin Bestimmenden
führt den traditionellen Gottesbegriff in eine Krise. Diese Krise begreife
ich als die Chance, diejenigen Elemente des
biblischen Gottesverständnisses wiederzuentdecken, die unter dem Gedanken
der Übereinstimmung zwischen Gott
und der alles bestimmenden Wirklichkeit verborgen geblieben sind. Es sind
Elemente, die sich der Welt und den in
ihr herrschenden Mächten gegenüber fremd verhalten, und den Gott,
der von diesen Elementen her gedacht wird,
nenne ich den >fremden Gott<. Ihm heute eine >Apologie< zu widmen,
ihn gegen die Versuche zu verteidigen, Gott
und alles bestimmende Wirklichkeit weiterhin zusammenzudenken, halte ich
für einen wichtigen theologischen
Beitrag im Streit um das, was uns letztlich bestimmt und beherrscht - und
dies ist der Streit um die Zukunft“ (7f).
Meine Kritik: Auch hier verunklart die ungenaue
Sprachweise leider das zweifellos berechtigte Anliegen. Die Ver-
änderung im Verhältnis zwischen Gottesverständnis und Erfahrung
des schlechthin Bestimmenden in der Gesell-
schaft muß den traditionellen (biblisch-christlichen) Gottesbegriff
selbst nicht in eine Krise führen. Fraglich und
fragwürdig ist allein, und dies ist ja das Anliegen Rusters selbst,
inwieweit das biblisch-christliche Gottesverständ-
nis noch >gesellschaftlich anschlußfähig< ist, inwieweit
sich also bei der Vermittlung und Darlegung des christli-
chen Gottesverständnisses tatsächlich das Schwergewicht von der
natürlichen Theologe auf die negative Theologie
verlagern muß.
3. Die verschleiernde Pauschalisierung in der Redeweise
Ruster: „Wenn nun... die Erfahrung der alles
bestimmenden Wirklichkeit heute nicht mehr mit dem christlichen
Gottesverständnis übereingebracht werden kann, dann verflüchtigt
sich auch die Selbstverständlichkeit Gottes.
Jene natürliche Theologie wird einerseits überflüssig, weil
sie nicht mehr dem Christentum als der herrschenden
Religion zuarbeiten muss, andererseits ist sie auch nicht mehr möglich,
weil von den Wirkungen der höchsten
Macht nicht mehr auf den Gott des christlichen Glaubens zurückgeschlossen
werden kann. Die dominierende Linie
der christlichen Gotteslehre kann und braucht deshalb heute nicht mehr weitergeführt
zu werden. Da das Chri-
stentum nicht mehr die herrschende Religion unserer Zeit ist, kann und soll
es auf die Plausibilität verzichten,
die aus der Ineinssetzung von dem, was alle Gott nennen, mit dem Gott der
Bibel kommt.“ (16f).
Meine Kritik: Ja, dem ist grundsätzlich zwar
weitgehend zuzustimmen, so weit davon ausgegangen wird, daß die
Nichtprägung durch den christlichen Glauben heute allumfassend geworden
ist. Die Frage ist freilich, inwieweit
trotz aller Umgewichtung und trotz aller Macht heutiger gesellschaftlich wirksamer
Götzen so pauschal von ei-
ner Verflüchtigung des christlichen Glaubens ausgegangen werden darf.
Oder anders gesagt: Muß nicht - auch
wenn es vielleicht wenige geworden sind - auch den nicht nur getauften und
gefirmten, sondern gar im christli-
chen Glauben herangewachsenen Kindern und Erwachsenen eine angemessene Vermittlung
der christlichen
Glaubenslehre angeboten werden? Kann und darf man so einfach davon ausgehen,
daß deren Glauben und
Denken überhaupt nicht mehr anschlußfähig für eine Religionspädagogik
im Sinne einer >natürlichen Theolo-
gie< ist? Die ruster'sche Pauschalisierung in der Redeweise jedenfalls
birgt die große Gefahr, daß nunmehr ein so
scharfer Kontrast gesetzt werden soll, daß das Kind zur anderen Seite
mit dem Bade ausgeschüttet wird.