Theologie-Systematisch
Theologische Erkenntnislehre
§ 6. Glauben - historisch
Texte-Neuzeit

"Zwischen Luthers eigenem Glaubensverständnis und der klassischen These von der 'fides caritate formata' besteht
eine sachliche Parallelität, die Luther eigenartigerweise nicht bemerkt hat, obwohl sie sich geradezu aufdrängt.
Denn wie die Scholastik ist auch Luther gezwungen, zwischen Glaube und 'Glaube' zu unterscheiden. Wie schon
erwähnt, gibt es nach Luther einen 'Glauben', der sich darauf beschränkt, die in der Bibel berichteten Heilsereig-
nisse 'objektiv' für wahr zu halten, die 'Historien' nicht zu bestreiten. Er nennt darum diesen Glauben 'fides histo-
rica'. Nach den ausdrücklichen, zum Teil polemisch formulierten Feststellungen Luthers rechtfertigt dieser 'histo-
rische Glaube' nicht, wie Luther unter Hinweis auf Jak 2,19 ('Auch die Dämonen glauben es und zittern') und
auf die Bekenntnisse der Dämonen, denen Jesus Schweigen gebietet (zum Beispiel Mk 5,7), begründet, bei denen
von Rechtfertigung keine Rede sein kann. Nun ist aber der 'historische Glaube' bei Luther sachlich dasselbe wie
die verstandesmäßige Zustimmung zum Worte Gottes nach mittelalterlichem Verständnis. Sogar der biblische Be-
zugspunkt, der es, von allem anderen abgesehen, zwingend macht, von einem nicht-rechtfertigenden Glauben zu
reden, ist derselbe: der Dämonenglaube. Auch nach Luther muß also zum 'Für-wahr-halte-Glauben' noch etwas
'hinzutreten', damit er rechtfertigender Glaube wird, nämlich der bewußte Rückbezug der geglaubten Heilsereig-
nisse auf die eigene sündige Existenz, der bewußt gedachte und zur Lebensperspektive gemachte Gedanke, daß
dies alles 'pro me', 'für mich' geschehen ist.

Eine der schönsten Formulierungen, die Luther dazu gelungen sind, steht in der 'Adventspostille' von 1522 (zu Mt
21,1-9): 'Das ist der Glaube, welcher auch allein der christliche Glaube heißt, wenn du glaubst ohn alles Wanken,
Christus sei nicht allein s. Petro und den Heiligen ein solcher Mann, sondern auch dir selbst, ja dir selbst mehr
denn allen anderen. Es liegt deine Seligkeit nicht darin, daß du glaubst, Christus sei den Frommen ein Christus,
sondern daß er dir ein Christus und dein sei. Dieser Glaube macht, daß dir Christus lieblich gefällt und süß im
Herzen schmeckt, da folgen nach Lieb und gute Werk ungezwungen' (10 I 2,24,28; vgl. 24,2-13).

Und zum Vergleich ein Text aus einer Disputation von 1535: 'Der erworbene Glaube beziehungsweise der 'einge-
gossene' der Sophisten sagt von Christus: Ich glaube, daß der Sohn Gottes gelitten hat und auferweckt wurde.
Und hier hört er auf. Der wahre Glaube aber sagt: Ich glaube zwar, daß der Sohn Gottes gelitten hat und aufer-
weckt wurde, aber dies ganz und gar für mich, für meine Sünden, dessen bin ich gewiß... Wenn also jenes 'für
mich' oder 'für uns' geglaubt wird, bewirkt er diesen wahren Glauben und grenzt ihn ab von allem anderen
Glauben, der lediglich die geschehenen Ereignisse hört.' (39 I 45,31; 46,7)"

(O.H. PESCH, Hinführung zu Luther, Mainz 32004, 185f)