Th. AUCHTER/M. SCHLAGHECK (Hg.), Theologie und Psychologie im Dialog über den Traum, Paderborn 2003;

Dieser Band ist die Dokumentation von Vorträgen, die im Rahmen einer Tagung in der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg" in Mülheim
an der Ruhr gehalten wurden. "Viele Tagungen und Publikationen", so schreiben die Herausgeber im Vorwort "treten mit einem interdiszipli-
nären Anspruch auf und kommen dabei oft nicht darüber hinaus, verschiedene Disziplinen zwischen zwei Buchdeckel zu pressen"
(10).
Ja und der vorliegende Band, so fragt sich der Leser sogleich, gelingt ihm mehr, gelingt ihm ein tatsächliches interdisziplinäres Gespräch?
Schauen wir genauer hin:

Der erste Beitrag stammt von GREGOR WEBER, Dr. med. und Privatdozent am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Katholischen Universität
Eichstätt-Ingolstadt. Der Autor zeichnet die Bedeutung von Traum und Traumdeutung in der Antike nach und spannt dabei einen Bogen
von Homers Odyssee bis zur Darstellung des Todestraums von Kaiser Caligula in der Biographie des Sueton.  Er betont, dass "eine zentrale
Eigenart antiken Traumverstehens gerade darin bestand, Träume als göttliche Hinweise auf künftiges Geschehen aufzufassen"
(17),
gibt hierfür einige Beispiele, erläutert die Aufgaben antiker professioneller Traumdeuter und informiert darüber, "dass die Glaubwürdigkeit
eines Traumes mit dem Sozialstatus des Träumenden korreliert, also ein König zuverlässiger träumt als ein Sklave"
(19). Sogenannte
Inkubationsträume wurden in Heiligtümern der verschiedenen Gottheiten künstlich induziert; und es war nicht ungewöhnlich, dass auch öf-
fentlich wirksame Personen sich durch ihre Träume in ihrem Handeln leiten, zumindest aber beeinflussen ließen. Träume wurden zur Diag-
nose von Krankheiten eingesetzt; auch deshalb führten nicht wenige Personen private Traumtagebücher, welches vom christlichen Bischof
Synesios von Kyrene in seinem wichtigen Buch über die Träume sogar ausdrücklich empfohlen wurde. Interessant ist, dass der Autor
auf dieses Buch, wie überhaupt auf den antiken christlichen Kontext der Träume nicht näher eingeht.

Der zweite Beitrag behandelt Erfahrungen mit und Deutungen von Träumen in der Bibel und der christlichen Spiritualität; er wurde
verfasst von MICHAEL PLATTIG, Professor für Theologie der Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster so-
wie Leiter des an diese Hochschule angegliederten Instituts für Spiritualität. Im Alten Testament - so Plattig - wird der Traum wie in seinem
geistesgeschichtlichen Umfeld selbstverständlich als Offenbarungsmedium Gottes angesehen; allerdings ist Gott selbst auch der autori-
sierte Deuter seiner Träume. Für das Neue Testament hingegen sei es unangemessen vom Traum als einem "wichtigen Offenbarungsmittel"
zu sprechen; allein bei Matthäus und in der Apostelgeschichte spiele er eine Rolle (50). Bis ins 4. Jahrhundert wurden dann "Träume und
Visionen kaum unterschieden, beide gehörten zur Prophetie und verdienten deshalb Beachtung... Einerseits glaubte man allgemein, dass
Gott sich der Träume bediene, um zum Menschen zu sprechen, andererseits mussten inspirierte von banalen Träumen unterschieden und
geklärt werden, ob sie von Gott oder von bösen Anlagen kommen" (52). In Heiligenviten gibt es viele Berichte von Träumen und Visio-
nen; als Beispiel hierfür beschäftigt sich der Autor ausführlich mit der Vita des heiligen Ansgar. Insgesamt geht es bei Träumen in diesem
Zusammenhang "nicht nur um das Erkennen der eigenen Berufung,... sondern auch um dieVergewisserung des bereits Erkannten bzw.
Geglaubten... Letztlich handelt es sich... um ein  Stück dessen, was das alte Mönchtum als Dämonenkampf bezeichnen würde, die Über-
windung der Angst des Unglaubens durch die Erfahrung des zugesprochenen Glaubens" (60). Im Anschluss an das Traumbuch des
Artemidor von Daldis ist die Qualität der Träume für Evagrios Ponticos ein Indiz für das Fortschreiten auf dem geistlichen Weg.

Im dritten Beitrag präsentiert MICHAEL HUBER, Psychoanalytiker und Privatdozent am Institut für Psychosomatik und Psychotherapie
der Universität Köln, neurobiologische und psychoanalytische Überlegungen zu Traum und Gedächtnis. Im Traum, so der Autor,
"bedient sich das Gehirn exakt  derselben Funktionen wie im Wachzustand"
(149). Eine der neuesten Hypothesen besagt, "dass das
Träumen von essenzieller Bedeutung ist für die sogenannte Konsolidierung des Gedächntnisses"
(153). "Erlebnisse, denen wir im
Wachzustand viel Aufmerksamkeit entgegenbringen, werden nachts vom Hippocampus den anderen Hirnarealen in einer Art 'Playback'
vorgespielt, encodiert und konsolidiert" (157). Aus Versuchen mit Tieren und Menschen weiß man, dass intensives Lernen in den Wach-
phasen eine Zunahme der REM-Schlafphasen (offensichtlich zur Gedächtnis-Verarbeitung des Gelernten) nach sich zieht. Schlafentzug
hingegen - und zwar auch der NREM-Phasen - führt zur Destabilisierung von Gedächtnisfunktionen und -inhalten (157f). Denkbar ist es
für den Autor überdies, dass es im Schlaf mit seiner Abfolge von REM- und NREM-Phasen zu einer Art "Dialog" zwischen verschiedenen
Teilen des Gehirns, insbesondere der rechten und der linken Gehirnhälfte kommt, um auf diese Weise mit der "ständig neuen Erfahrung
von der Welt, mit Erlebtem, mit Konflikten...und dem Entwurf von Verhaltensvarianten zurechtzukommen" (161). Der REM-Schlaf ist
damit "möglicherweise ein Zustand, der dem Wachzustand völlig gleicht, bis auf die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit vom sensorischen
Input weggerichtet ist" (162). Ist umgekehrt Wachheit - so fragt der Autor - zu verstehen als "ein Traumzustand, in dem... sensorischer
Input wahrgenommen wird?" (162). Hubers Ergebnis: "Unser Hirn ist ein funktionell relativ geschlossenes System, das mittels konti-
nuierlicher oszillatorischer Nervenzellaktivität die Funktionalität sensorischer Inputinformationen selbst steuert... Unser Gehirn scheint...
die meiste Zeit zu träumen, mal etwas mehr unter Einbeziehung sensorischer Informationen von außen (wir nennen das den Wach-
zustand), mal unter Verweigerung der Zur-Kenntnis-Nahme der Außenwelt, das nennen wir dann Traum"
(164f). Bei den Patien-
ten, denen die Psychoanalyse sogenannte "psychische Rükzugsräume" oder "Unerreichbarkeit" zuschreibt, scheint dann - aufgrund
schwerer seelischer und/oder körperlicher Traumata - der Traumzustand als ein permanenter den sogenannten "Wachzustand" zu

dominieren.

Der vierte Beitrag des Diplom-Psychologen und Psychoanalytikers THOMAS AUCHTER behandelt 100 Jahre psychoanalytische
Traumdeutung
. Hier werden verschiedene Phasen, Mechanismen und Funktionen der Traumbildung dargestellt und auch zum Teil in
anderen Beiträgen zuvor schon angesprochene historische Fakten hinsichtlich der Deutung des Traumes und seiner Funktionen noch
einmal benannt. Insgesamt ist aus diesem Beitrag am wenigsten neues zu lernen.

Alles in allem ist dies ein höchst interessantes Buch, das über vielfältige Aspekte zum Traum und zur Traumdeutung infor-
miert! Allerdings: Der im Vorwort implizit erhobene hohe Anspruch, endlich einmal Interdisziplinäres anzubieten, das über das Pressen
verschiedener Disziplinen zwischen zwei Buchdeckel hinausgeht (s.o.) wird weder in den hier besprochenen Beiträgen noch in dem als
Anhang abgedruckten Gespräch zwischen den Vortragenden der Tagung eingelöst. Letzteres erweist doch eher ein auf hohem Niveau
angelegtes Aneinandervorbeireden als den tatsächlichen Versuch, sich auf die Aussagen der Dialogpartner einzulassen und diese in die
eigenen Gedanken miteinzubeziehen. Aber hatte nicht gerade der Beitrag von Michael Huber plausibel gemacht, dass und warum wir
alle hauptsächlich im eigenen Saft schmorende Träumende sind und dies - am liebsten - auch bleiben?


Herbert Frohnhofen, 19. November 2003