G. ALBERIGO/K. WITTSTADT, Geschichte des Zweiten Vatikanischen
Konzils (1959-1965)
5 Bde., Bd. 2: Das Konzil auf dem Weg zu sich selbst, Mainz-Leuven
2000;
Der zweite Band dieses voluminösen zeitgeschichtlichen
Dokuments tritt
"in den lebendigen Ablauf des Konzilsereignisses
ein" (XIX) und behandelt die erste Sitzungsperiode und die
"Intersessio"
(Oktober 1962 - September 1963). Dabei wird
anstatt einer
"thematischen Rekonstruktion" der zum Teil verschlungene
Ablauf des Geschehens in den Versammlungen
detailliert aus verschiedenen Perspektiven geschildert, um so einen
möglichst plastischen Eindruck der Geschehnisse zu
ermöglichen. Verschiedene internationale Autoren wurden gefunden, um
aus verschiedenen Blickwinkeln ein buntes Ka-
leidoskop der konziliaren Ereignisse dem Leser vor Augen zu führen.
Andrea RICCARDI beschreibt zunächst die
"turbulente Eröffnung"
der Konzilsarbeiten. Hier geht es sowohl um erhebli-
che organisatorische Probleme und Mißhelligkeiten zu Beginn als
auch um die Eröffnungsansprache
"Gaudet Mater Ec-
clesia", "eine der vollendetsten Ausdrucksformen der Konzilsvision
von Papst Roncalli" (17).
"Durch ein angemessenes
Aggiornamento", so heißt es hier, werde
"die Kirche erreichen,
daß die einzelnen Menschen, die Familien und die Völ-
ker mit größerer Aufmerksamkeit die himmlischen Dinge beachten"
(18). Dabei ziehe
"es die Braut Christi vor, eher das
Heilmittel der Barmherzigkeit zu gebrauchen als das der Strenge. Sie
ist davon überzeugt, daß es dem jetzt Geforderten
besser entspricht, wenn sie die Triftigkeit ihrer Lehre nachweist, als
wenn sie eine Verurteilung ausspricht" (21). Es geht
um gewisse Anlaufschwierigkeiten, die wohl viel mit den Rivalitäten
zwischen der Kurie und den Bischöfen aus einigen
Ländern zu tun haben, um Geschäftsordnungsdebatten, die Frage
der Konzilssprache - faktisch nicht nur das Lateinische
- und schließlich um die durchaus offene Frage, wer eigentlich die
Leitung des Konzils hat. Deutlich wird hierbei, wie
offen am Beginn vieles von dem noch ist, was Struktur und Verlauf des
Konzils wesentlich bestimmen und prägen wird.
Den Beginn des Konzils beschreibt anschließend Gerald P. FOGARTY.
Die kurialen Kommissionen, so heißt es hier,
hatten offenbar einen Wust an Papier vorbereitet, mehr als doppelt so
viel, wie der junge Joseph Ratzinger süffisant
vermerkte, als
"alle bisherigen Konzilien der Kirchengeschichte zusammen
hervorgebracht haben" (83). Überdies
merkt Ratzinger an, dass am Anfang des Konzils die Sorge stand,
"das
Ganze möchte in eine Bestätigung vorgefaß-
ter Beschlüsse sich verkleinern und dadurch der notwendigen Erneuerung
der Kirche mehr schaden als nützen..."
(84). Um dem entgegenzuwirken, werden Gruppen aus Bischöfen und Theologen
gebildet, die an Alternativtexten
feilen und so ganz neue Gedanken ins Konzil einbringen wollen. Hinzu kommen
taktische Überlegungen, wie auch
die Mehrheit der Konzilsväter, davon überzeugt werden kann die
vorbereiteten Schemata ad acta zu legen, um Al-
ternativen eine Chance zu geben. Im übrigen informiert dieses Kapitel
über das Engagement Johannes XXIII. im
Kontext der in das Konzil hineinschwappenden Kuba-Krise sowie über
die schwere Erkrankung des Papstes.
Im dritten Kapitel informiert Mathijs LAMBERIGTS über die Konzilsdebatte
zur Liturgie. Dass eine Konstitution
über die Liturgie Gegenstand der Konzilsverhandlungen sein sollte,
sollte zum einen der Verbesserung und Anpas-
sung der liturgischen Bücher, Texte und Riten dienen, zum anderen die
Rolle der schweigenden Zuschauer für die
Christen in eine aktive Teilnehmerschaft bei der Liturgie verwandeln (131).
Als wichtigste Diskussionspunkte der
Debatte wurden festgehalten:
"Latein oder Muttersprache, Konzelebration
- ja oder nein; Kommunion unter bei-
derlei Gestalten; Anpassung (der Liturgie an die jeweilige Kultur); die Vollmacht
der Bischöfe bezüglich der Li-
turgiereform, die Reform des Breviers, das Missale und das Rituale; und schließlich
die Krankensalbung" (135).
Am umfangreichsten und langwierigsten waren offenbar die Diskussionen um
die Frage der Verwendung des La-
teinischen oder der jeweiligen Muttersprache in der Liturgie.
Das vierte, von Hilari RAGUER, verfasste Kapitel diskutiert die Atmosphäre
in dieser frühen Phase des Konzils.
Nachdem zu Beginn offenbar viele Bischöfe der Auffassung waren, dass
man lediglich angereist sei, um ein paar
vorbereitete Papiere der Kurie abzusegnen und somit das gesamte Konzil in
wenigen Wochen bereits wieder vor-
bei sei, wandelte sich dies bereits während der Diskussionen um die
Liturgiekonstitution. Das Konzil entwickelte
ein unerwartetes Selbstbewusstsein und wollte die Verantwortung für
die zu verabschiedenden Entschließungen
offenbar selbst in die Hand nehmen. Hierzu trugen in erheblichem Maße
die informellen Kontakte bei, die sich
während des Aufenthaltes in Rom für die Konzilsväter in vielfältiger
Weise boten. Aber auch zum Beispiel die
Organisation der Bischöfe in länderspezifische Bischofskonferenzen
spielte erstmals im Rahmen eines Konzils
eine wichtige Rolle. Daneben kam es zu informellen Gruppen vielfältiger
Art, die zum Teil erheblichen Ein-
fluss auf die Beratungen nahmen. Schließlich spielte es für den
Verlauf des Konzils eine erhebliche Rolle, dass
erstmals die gesamten Beratungen - trotz weitgehender Geheimhaltungsverpflichtungen
der Verhandelnden -
durch die Medien ausführlich begleitet wurden und dadurch eine ausgeprägte
Interaktion mit dem gesamten
Volk Gottes zustande kam.
Im fünften Kapitel berichtet Giuseppe RUGGIERI über einen ersten
Konflikt in der Lehre, und zwar über die
Auseinandersetzungen um das Schema
De fontibus revelationis, also
über die Quellen der Offenbarung. Im Rah-
men dieser Auseinandersetzung bekräftigt der Papst sein Anliegen, dass
das II. Vatikanum ein Pastoralkonzil
sein solle, in dem es darauf ankomme,
"die Lehre (der Kirche) der Welt
von heute zu erschließen" (312). In ei-
nem ebenfalls eher kurzen sechsten Kapitel informiert Mathijs LAMBERIGTS
über den Umgang mit dem Sche-
ma über die sozialen Kommunikationsmittel, das an nur drei Tagen beraten
wurde. Das vorgelegte Schema wur-
de positiv aufgenommen und mit nur wenigen Änderungen verabschiedet.
Das umfangreiche siebte Kapitel stammt erneut von Giuseppe RUGGIERI und ist
dem
"schwierigen Abschied
von der kontroverstheologischen Ekklesiologie" gewidmet. Ähnlich
wie bei dem Schema über die Offenbarung
standen sich im Hinblick auf das Kirchenverständnis zwei grundsätzlich
unterschiedliche Positionen gegenüber:
"einerseits eine gesellschaftlich-juridische Auffassung, die sich an der
Verteidigung der Identität zwischen der
katholischen Kirche und dem geheminisvollen Leib Christi festhielt, und andererseits
eine Auffassung, der
mehr am Mysterium lag" (331). Da man sich in den weitläufigen Diskussionen
über das vorgelegte Schema
nicht einigen konnte, schlug Kardinal Döpfner vor,
"daß in
der Zeit zwischen den Sitzungsperioden ein neues
Schema vorbereitet werden solle, was dann der österreichische und der
deutsche Episkopat tatsächlich tun wer-
den" (392). Die schärfste Kritik am vorgelegten Schema wurde von
dem (durch Joseph Ratzinger beratenen)
Kardinal Frings formuliert: Es ermangele ihm an Katholizität; denn es
vertrete
"bloß die lateinische Traditi-
on der beiden letzten Jahrhunderte" (393).
Das besonders ausführliche, von Jan GROOTAERS verfasste, achte Kapitel
behandelt die Zeit nach der er-
sten Sitzungsperiode und damit die Vorbereitung der zweiten, also die Zeit
vom Dezember 1962 bis zum
Oktober 1963. Eine große Mehrheit der Konzilsväter hatte zum Ende
der ersten Sitzungsperiode die Not-
wendigkeit gespürt, die Fortsetzung der Arbeit der Konzilskommissionen
für die Zeit der Unterbrechung
der Vollversammlungen sicherzustellen und dabei eine Reduzierung und Revision
der Schemata vorzuneh-
men. Dies bedeutete de facto
"eine 'zweite Vorbereitung' des Konzils,
deren Hauptcharakteristik in einer
Emanzipation von den Einflüssen bestehen würde, von denen die Arbeiten
der meisten Vorbereitungskom-
missionen 1961 und 1962 dominiert gewesen waren" (428f). Eine Koordinierungskommission
wird einge-
richtet, die diese Arbeit federführend leisten soll. In der Tat werden
dann in intensiven Beratungen neue
Schemata entwickelt über die Offenbarung und vor allem über die
Kirche sowie wichtige Vorüberlegun-
gen angestellt über den Ökumenismus und das Laienapostolat.
Im neunten Kapitel erläutert erneut Jan GROOTAERS mithilfe des schönen
Bildes von
"Ebbe und Flut"
weitere wichtige Entwicklungen zwischen der ersten und zweiten Sitzungsperiode
des Konzils. Nach der
Flut der Vollversammlung ist nun die Ebbe angebrochen, in welcher die Konzilsväter
sich in ihre Hei-
mat zurückziehen und neu vorbereiten. In Hirtenbriefen wenden sie sich
an das Volk und erläutern die
Entwicklungen im Konzil. Auch der Ökumenische Rat der Kirchen äußert
sich Ende Februar 1963 erst-
mals in einer offiziellen Stellungnahme zum Konzil. Grundsätzlich wird
es begrüßt, dass die römisch-
katholische Kirche nun ihrerseits zu einem "Zentrum ökumenischer Initiativen"
geworden sei (642).
In einem abschließenden zehnten Kapitel fasst Giuseppe ALBERIGO die
bis dahin erlangten konzilia-
ren Erfahrungen mit dem Stichwort
"selbständig lernen" zusammen.
Wichtig ist wohl, dass der zwi-
schenzeitliche Wechsel im Pontifikat nicht das konziliare Klima beeinträchtigte,
eher in umgekehrter
Weise das Konzilsereignis das Konklave beeinflusste. Der neue Papst Paul
VI., der sowohl an der Vor-
bereitung als auch an der ersten Konzilsperiode teilgenommen hatte, kündigte
unmittelbar nach seiner
Wahl die Weiterführung des Konzils an. Insgesamt gibt dieser Band einen
höchst detaillierten Einblick
in die Diskussionen des Konzils und ihre Hintergründe. Vor dem Hintergrund
der jüngsten Wahl des
Papstes Benedikt XVI. ist es interessant zu lesen, in wie intensivem Maße
sich schon der junge Joseph
Ratzinger in die Gestaltung gerade der dogmatischen Texte des Konzils eingemischt
hat.
Herbert Frohnhofen, 11. Dezember 2005