Dietrich-Alex Koch, Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis - Ekklesiologie - Ge-
schichte, hg.v. Wilhelm Horn (Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 65) Göttingen 2008;
Die in diesem Band just zum 65. Geburtstag veröffentlichten Aufsätze des emeritierten Neutestamentlers an
der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster stammen aus den Jahren 1985 bis 2006. "Ihr
gemeinsamer Schwerpunkt", so der Herausgeber (selbst Professor für Neues Testament an der Evangelisch-
Theologischen Fakultät der Universität Mainz) in der Einleitung, "ist das hellenistische Christentum, genauer
sein Schriftverständnis, sein Gemeindeverständnis und seine Geschichte" (5). Hierbei steht der Ausdruck "hel-
lenistisches Christentum" in seiner wechselvollen Forschungsgeschichte im weitesten Sinne für alle Ergeb-
nisse des Einflusses hellenistischer Kultur auf das entstehende Christentum und ist damit nichts anderes
als das Resultat dessen, was seit Jahrzehnten sehr einflussreich und oft auch in polemischen Kontexten als alt-
kirchliche "Hellenisierung des Christentums" bezeichnet wird. Dabei ist aufgrund der umfassenden Verbrei-
tung der hellenistischen Kultur an der Wiege des frühen Christentums längst klar, dass man dem "hellenisti-
schen" ein (vermeintlich vom Hellenismus freies) "palästinisches Christentum" nicht mehr gegenüberstellen
kann; vielmehr darf der christliche Glaube als jenes Moment interpretiert werden, das "in der sich dem Ende
zuneigenden Epoche des Hellenismus" (6) entsteht, diesen spannungsreich und nachhaltig mit- und umprägt,
so dass die auf diese Weise entstehende kulturelle Gemengelage die Kraft gewinnt, eine ungeheuer einfluss-
reiche Wirkungsgeschichte zu entfalten. Merkwürdig ist aus dieser Perspektive nicht mehr die nahezu
zwangsläufige Assimilation hellenistischer Kultur und christlicher Mission; merkwürdig ist aus dieser Per-
spektive weit eher, dass die Wurzel dieser die ganze damalige und heutige Welt umspannenden Kultur im
vergleichsweise peripheren Galiläa liegt. - Eingeteilt ist der Band in drei Kapitel: Schriftverständnis - Ekkle-
siologie - Geschichte. Aus allen drei Abschnitten sei hier jeweils ein Aufsatz näher angeschaut.

In einem ERSTEN BEITRAG ("... bezeugt durch das Gesetz und die Propheten") diskutiert der Autor die
Funktion der Heiligen Schrift bei Paulus
. Dabei ist feststellbar: "Paulus steht zweifellos in Kontinuität mit
der zeitgenössischen jüdischen Schriftverwendung" (14). Allerdings wählt er aus inhaltlichen Gründen sehr
stark aus. Während Teile aus den Väterschriften in seiner Zitation dominieren, fällt die Königszeit weigehend
aus. Seine Auslegung des Liebesgebotes (Lev 19,18) steht in hellenistisch-jüdischer Tradition. Insgesamt
steht die paulinische Schriftverwendung sehr deutlich im Zeichen des Verheißungs-Erfüllungs-Zusammen-
hangs. Die überwiegende Anzahl der 88 Schriftanführungen "dient der Verdeutlichung, der Fortführung ei-
gener Aussagen, oder sie sind eigenständige Argumente im Gedankengang und stehen nicht selten auch völlig
anstelle einer eigenen Aussage des Paulus" (17). Dort, wo Paulus besonders genau argumentiert, finden sich
die Schriftzitate am Häufigsten; allerdings nimmt Paulus sich hier oft die Freiheit, in durchaus für die Zeit
und Kultur unüblichem Ausmaß, die Schriftzitate nach Belieben zusammenzufügen und umzugestalten. Die
Tatsache, dass in den einzelnen Briefen in sehr unterschiedlichem Ausmaß Schriftzitate vorkommen, erklärt
K. - im Unterschied zu Harnack, der dies auf die unterschiedliche Notwendigkeit von Argumentationsstrate-
gien zurückführte - viel einfacher damit, "in den ausdrücklichen Anführungen von Schriftworten eine literari-
sche Technik zu sehen, die Paulus erst schrittweise im Zusammenhang mit der Abfassung von Briefen entwik-
kelt hat"
(19f). Insgesamt erschließt sich die Schrift für Paulus durch das Christusereignis völlig neu, so dass
auch radikale Uminterpretationen für ihn notwendig werden.

In einem ZWEITEN BEITRAG handelt K. über den "Zwölferkreis und das Gottesvolk". Einleitend macht
er deutlich, dass sowohl Historizität als auch ekklesiologische Bedeutung des Zwölferkreises derzeit umstrit-
ten sind und dass er zu beiden Problemkreisen genauere Auskünfte erarbeiten möchte. Im Ausgang von 1
Kor 15,3b-5 betont K., dass "der Zwölferkreis mit Petrus an der Spitze in einer frühen Phase der Jerusalemer
Urgemeinde eine theologisch qualifizierte Rolle gespielt hat"
(112); bereits vor Paulus habe aber eine "Ver-
schiebung" stattgefunden, so dass neben dem Zwölferkreis eine andere Gruppe ("Jakobus und alle Apostel")
Leitungs-Autorität bekommen habe. Hieraus schließt K., dass "es sich beim Zwölferkreis um (primär wohl
galiläische) Jesusanhänger aus der Phase seines vorösterlichen Wirkens handelt"
(113), der im Zuge des An-
wachsens der Jerusalemer Urgemeinde vor allem durch hellenistisch geprägte Mitglieder etwas ins Hintertref-
fen geriet. Insbesondere die im Zwölferkreis zum Ausdruck kommende, "auf die Restitution des eschatologi-
schen Zwölfstämmevolkes ausgerichtete Konzeption"
war nicht mehr aufrechtzuerhalten. So steht nach K. -
durchaus im Einklang mit Joachim Gnilka - der vorösterliche Zwölferkreis symbolisch in enger Verbindung
zur Reich-Gottes-Botschaft Jesu Christi, die sich eschatologisch auf das Gesamtvolk Israels bezieht, auch
wenn dies bereits in den hellenistisch geprägten Kreisen der frühen Kirche kaum mehr nachvollzogen werden
konnte. Gleichwohl hat diese Konzeption ekklesiologisch hohe Bedeutung, da die Jerusalemer Urgemeinde
sich vor dem genannten Hintergrund als Kern eines universalen Gottesvolkes versteht, dem sich alle Men-
schen unterschiedslos anschließen können - und um ihres Heiles willen auch sollen.

Ein DRITTER hier angeschauter BEITRAG behandelt Geistbesitz, Geistverleihung und Wundermacht in
der Apostelgeschichte 8,5-25
. K. referiert ausführlich die textkritische Forschungssituation zu dieser vieldis-
kutierten Stelle und kommt in Bezug auf die hauptsächlich diskutierte Person des Simon Magus und seines
Einflusses im Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen: Verarbeitet ist in dieser Textstelle offenbar eine vor-
lukanische Tradition, die ein Bild Simons des Magiers kennt, nach welchem dieser ein erfolgreicher Wunder-
täter gewesen ist und als "große Kraft (Gottes)" verehrt wurde. Dies habe wohl eine gewisse Zeitlang in Kon-
kurrenz zu christlichen Gemeinden gestanden, sei dann aber als nicht wirklich durch den Geist Gottes geseg-
net entlarvt worden. Vor diesem Hintergrund konnte die Gestalt des Simon Magus zum Prototyp des Ketzers
in der Alten Kirche überhaupt werden.

Im Ganzen gehen die im Buch versammelten Beiträge recht verschiedene Themenkreise der neutestamentli-
chen Forschung an und vermitteln so einen vielfältigen Einblick in den immer wieder heftig und fruchtbar
diskutierten Zusammenhang von Hellenismus und frühem Christentum.

Herbert Frohnhofen, 21. September 2008