Chr. SCHWÖBEL, Die Wahrheit des Glaubens im religiös-weltanschaulichen Pluralismus, in: DERS., Christlicher
Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 25-60 (zuerst in: U. KÜHN u.a.
(Hgg.), Christlicher Wahrheitsanspruch zwischen Fundamentalismus und Pluralität, Leipzig 1996, 87-118);
Zur im Titel genannten Ausgangsthematik arbeitet der Autor 6 Thesen heraus, die er umfassend kommentiert. Diese Thesen sind:

These 1: Die gegenwärtige Situation der Gesellschaft kann als religiös-weltanschaulicher Pluralismus charakterisiert werden,
d.h. als
ein Zustand, in dem weltanschauliche Basisorientierungen, die beanspruchen, die Situation des Menschen in der Welt umfassend zu deuten und so zu ihrer Gestaltung anzuleiten, sich in einem Verhältnis der Koexistenz und Konkurrenz befinden.
Sie ist das Ergeb
nis geschichtlicher Pluralisierungsprozesse, in die das evangelische Christentum seit der Reformation tief ver- wickelt ist, und stellt für die evangelische Theologie die Aufgabe diese Situation theologisch zu begreifen.

These 2: Den weltanschaulich-religiösen Pluralismus theologisch zu begreifen, bedeutet, die von ihm gestellten Fragestellun-
gen aus
der Perspektive des christlichen Glaubens aufzunehmen und zu bearbeiten. Das ist die Voraussetzung dafür, Identität
und Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in der pluralistischen Situation angemessen zu vertreten.

These 3: Christliche Glaube kann als Beziehung unbedingten daseinsbestimmenden Vertrauens auf Gott als den Grund, Sinn
und
Ziel des Seins der Welt und des menschlichen Lebens in ihr verstanden werden. Die Gottesbeziehung des Glaubens be-
stimmt so
die Selbstbeziehung und die Weltbeziehung der Glaubenden.

These 4: Als unbedingtes existenzbestimmendes Vertrauen auf Gott schließt der christliche Glaube ein umfassendes Wirklich-
keits
verständnis ein, das im Bekenntnis des Glaubens formuliert wird. Dieses Wirklichkeitsverständnis, das theologisch als
Gottes-, Selbst- und Weltverständnis entfaltet werden muß, ist ein Implikat des Gottes-, Selbst- und Weltverhältnisses des christlichen Glaubens. Das Glaubensbekenntnis formuliert den Inhalt des Glaubens, der den Akt des Glaubens ermöglicht und fordert und in Aussagen formu- liert werden kann und muß, die einen Wahrheitsanspruch erheben. Die Beziehung auf diesen
Inhalt ermöglicht es den Glaubenden, ihren stets nur in personaler Gewißheit lebendigen Glauben im gemeinsamen Bekennt-
nis zu formulieren und in ihrer stets partikula- ren und pluralen Glaubensgewißheit den in seinem Inhalt begründeten univer-
salen Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu bezeugen.

These 5: In den philosophischen Debatten des 20. Jh. wird die Frage nach der Wahrheit in den Theorien der Wahrheit behan-
delt. Neben der Erklärung, was unter 'wahr' zu verstehen sei, bemühen sie sich darum, Kriterien der Wahrheit anzugeben, Verfahren
der Wahrheitsfindung zu beschreiben und den Stellenwert der Wahrheit im Zusammenhang der Lebenspraxis bzw.
einer ihrer Bereiche, z.B. der Wissenschaft zu erfassen. Welche Positionen hinsichtlich der Grundfragen der Wahrheitstheorie eingenommen werden, entscheidet sich an der Art des Wirklichkeitsverständnisses, in dessen Rahmen die Wahrheitsfrage be-
handelt wird. Im Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens wird die Wahrheitsfrage der Lebensform des christlichen Glaubens zugeordnet, wodurch die Beziehung ihrer unterschiedlichen Aspekte aus dem Charakter des Glaubens einsichtig ge-
macht werden kann.

These 6: Die Vertretung der Wahrheit des christlichen Glaubens in der Situation des weltanschaulich-religiösen Pluralismus
muß
sich an den Strukturen des Wahrheitsbewußtseins des christlichen Glaubens orientieren. Die Formen der Vertretung der Wahrheit des Glaubens sind Zeugnis, Dialog und ver- antwortliche Lebensgestaltung in der Gemeinschaft des Glaubens und
in Kooperation
mit anderen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften. Die Konkurrenz des Wahrheitsbewußtseins der Religionen und Weltanschauungen schließt aus der Sicht des christlichen Glaubens Koexistenz und Kooperation nicht aus,
sondern ein, sofern sie aus
dem Wahrheitsbewußtsein des christlichen Glaubens begründet werden können und nicht dessen Suspendierung voraussetzen. Grund und Grenze der Vertreung der Wahrheit des christlichen Glaubens findet in der Überzeu-
gung Ausdruck, daß Gott der Ort
der Einheit der Wahrheit ist. Bis zum Erscheinen der Einheit der Wahrheit in der visio be-
atifica in patria
ist der Pluralismus des Wahrheitsbewußtseins invia aus der Perspektive des Glaubens zu ertragen (Toleranz)
und zu gestalten.