These 1: Die gegenwärtige Situation der
Gesellschaft kann als religiös-weltanschaulicher Pluralismus charakterisiert
werden,
d.h. als ein Zustand, in dem weltanschauliche
Basisorientierungen, die beanspruchen, die Situation des Menschen in der
Welt umfassend zu deuten und so zu ihrer Gestaltung anzuleiten, sich in einem
Verhältnis der Koexistenz und Konkurrenz befinden.
Sie ist das Ergebnis geschichtlicher Pluralisierungsprozesse,
in die das evangelische Christentum seit der Reformation tief ver- wickelt
ist, und stellt für die evangelische Theologie die Aufgabe diese Situation
theologisch zu begreifen.
These 2: Den weltanschaulich-religiösen
Pluralismus theologisch zu begreifen, bedeutet, die von ihm gestellten Fragestellun-
gen aus der Perspektive des christlichen Glaubens
aufzunehmen und zu bearbeiten. Das ist die Voraussetzung dafür, Identität
und Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in der pluralistischen Situation
angemessen zu vertreten.
These 3: Christliche Glaube kann als Beziehung
unbedingten daseinsbestimmenden Vertrauens auf Gott als den Grund, Sinn
und Ziel des Seins der Welt und des menschlichen
Lebens in ihr verstanden werden. Die Gottesbeziehung des Glaubens be-
stimmt so die Selbstbeziehung und die Weltbeziehung
der Glaubenden.
These 4: Als unbedingtes existenzbestimmendes
Vertrauen auf Gott schließt der christliche Glaube ein umfassendes Wirklich-
keitsverständnis ein, das im Bekenntnis
des Glaubens formuliert wird. Dieses Wirklichkeitsverständnis, das theologisch
als
Gottes-, Selbst- und Weltverständnis entfaltet werden muß, ist
ein Implikat des Gottes-, Selbst- und Weltverhältnisses des christlichen
Glaubens. Das Glaubensbekenntnis formuliert den Inhalt des Glaubens, der den
Akt des Glaubens ermöglicht und fordert und in Aussagen formu- liert
werden kann und muß, die einen Wahrheitsanspruch erheben. Die Beziehung
auf diesen
Inhalt ermöglicht es den Glaubenden, ihren stets nur in personaler Gewißheit
lebendigen Glauben im gemeinsamen Bekennt-
nis zu formulieren und in ihrer stets partikula- ren und pluralen Glaubensgewißheit
den in seinem Inhalt begründeten univer-
salen Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu bezeugen.
These 5: In den philosophischen Debatten des
20. Jh. wird die Frage nach der Wahrheit in den Theorien der Wahrheit behan-
delt. Neben der Erklärung, was unter 'wahr' zu verstehen sei, bemühen
sie sich darum, Kriterien der Wahrheit anzugeben, Verfahren der Wahrheitsfindung zu beschreiben und den Stellenwert der
Wahrheit im Zusammenhang der Lebenspraxis bzw.
einer ihrer Bereiche, z.B. der Wissenschaft zu erfassen. Welche Positionen
hinsichtlich der Grundfragen der Wahrheitstheorie eingenommen werden, entscheidet
sich an der Art des Wirklichkeitsverständnisses, in dessen Rahmen die
Wahrheitsfrage be-
handelt wird. Im Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens
wird die Wahrheitsfrage der Lebensform des christlichen Glaubens zugeordnet,
wodurch die Beziehung ihrer unterschiedlichen Aspekte aus dem Charakter des
Glaubens einsichtig ge-
macht werden kann.
These 6: Die Vertretung der Wahrheit des christlichen
Glaubens in der Situation des weltanschaulich-religiösen Pluralismus
muß sich an den Strukturen des Wahrheitsbewußtseins
des christlichen Glaubens orientieren. Die Formen der Vertretung der Wahrheit
des Glaubens sind Zeugnis, Dialog und ver- antwortliche
Lebensgestaltung in der Gemeinschaft des Glaubens und
in Kooperation mit anderen Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften.
Die Konkurrenz des Wahrheitsbewußtseins der Religionen und Weltanschauungen
schließt aus der Sicht des christlichen Glaubens Koexistenz und Kooperation
nicht aus,
sondern ein, sofern sie aus dem Wahrheitsbewußtsein
des christlichen Glaubens begründet werden können und nicht dessen
Suspendierung voraussetzen. Grund und Grenze
der Vertreung der Wahrheit des christlichen Glaubens findet in der Überzeu-
gung Ausdruck, daß Gott der Ort der Einheit
der Wahrheit ist. Bis zum Erscheinen der Einheit der Wahrheit in der visio
be-
atifica in patria ist der Pluralismus des Wahrheitsbewußtseins
invia aus der Perspektive des Glaubens zu ertragen (Toleranz)
und zu gestalten.