Chr. SCHWÖBEL, Solus Christus? Zur Frage der Einzigartigkeit Jesu Christi im Kontext des interreligiösen
Dialogs, in: DERS., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003,
179-216 (zuerst in: U. ANDREE u.a. (Hgg.), Leben und Kirche (FS W. HÄRLE) Marburg 2001, 79-106);
Der Autor entfaltet seine Gedanken hier in 12 Thesen:

These 1: Am Anfang des 21. Jh. muß die religiöse Situation der Zeit in globaler wie lokaler Perspektive als eine Situation des
radikalen religiös-weltanschaulichen Pluralismus verstanden werden. Das bedeutet, daß im Leben der Gesellschaft unterschied-
liche Basisorientierungen, die eine ganzheitliche Wirklichkeitsdeutung und Handlungsorientierung zu geben beanspruchen, sich
in einem Verhältnis der Koexistenz und Konkurrenz befinden. Durch den Zerfall von gemeinsamen, auf den Vernunftprinzipi-
en der Aufklärung gegründeten Wertüberzeugungen der Gesellschaft erstreckt sich der Konflikt der Basisorientierungen auf
alle Bereiche des Lebens. Die De-Kanonisierung der Prinzipien der Aufklärung führt zur Re-Kanonisierung religiöser (aber
auch quasireligiöser) Traditionen.

These 2: Der Verlust eines als 'common ground' postulierten zivilreligiösen Werthorizontes, der als Maßstab der Vertretung re-
ligiö
ser Überzeugungen verstanden wurde, führt dazu, daß religiöse Überzeugungen aus der Sphäre privater Frömmigkeitspra-
xis in
den öffentlichen Bereich drängen und die Diskussion um Fragen der Zielbestimmung des gesellschaftlichen Lebens mit- bestimmen. Religös-weltanschaulich pluralistische Gesellschaften sind darauf angewiesen, daß die handlungsleitenden Überzeu- gungen ihrer Mitglieder öffentlich transparent gemacht werden und in ihren Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche Le-
ben öffentlich diskutiert werden können. Der interreligiöse Dialog ist eine fundamentale Überlebensbedingung pluralistischer Gesellschaften.

These 3: In der Situation des religiös-weltanschaulichen Pluralismus gibt es keinen Standpunkt 'über' den religiösen und welt-
anschaulichen Überzeugungsgemeinschaften, weder als eine alle Differenzen übergreifende monistische Allgemeinsicht noch
als eine jeden besonderen Standpunkt relativistisch nivellierende pluralistisch-polytheistische Gesamtsicht. Jede Wirklichkeits- deutung ist radikal perspektivisch in dem Sinne, daß ihr Anspruch auf Wahrheit und Geltung an die personale Gewißheit de-
rer, die sie vertreten, und die Überlieferungsgemeinschaften, in denen sie gewachsen ist, gebunden ist. Die Situation des reli-
giösen Pluralismus und die Forderung des interreligiösen Dialogs sind darum für Christen und Christinnen aus der Perspektive
des christlichen Glaubens zu begreifen, der in fundamentaler Form im Bekenntnis zu Jesus als dem Christus Gottes zum Aus-
druck kommt.

These 4: Das Christusbekenntnis formuliert die durch den Geist Gottes in der Bewährung der in der Schrift bezeugten Chri-
stusbotschaft gewirkte Glaubensgewißheit, daß in Jesus Christus das endgültige Heil Gottes für die Welt, Gottes Gnade und Wahrheit, Ereignis geworden ist, so daß Gott nicht mehr ohne Christus geglaubt werden kann, die Hoffnung der Welt nicht
mehr ohne Christus erblickt werden kann und das Heil der Welt als in Christus eschlossen verstanden werden muß. Das trini-
tarische Glaubensbekennt
nis formuliert den Inhalt und den Prozeß der Erschließung der Wahrheit des Handelns und des We-
sens Gottes in Jesus Christus für den christlichen Glauben. Der christliche Glaube ist demnach auf die das menschliche Chri- stuszeugnis in Dienst nehmende Selbstvergegenwärtigung Gottes in Christus durch den Geist gegründet.

These 5: Das reformatorische 'solus Christus' pointiert die Auffassung des Christusbekenntnisses, daß Jesus Christus der ein-
zige Heilsmittler ist und daß das in Christus Ereignis gewordene Heil Gottes für die Welt allein durch das Handeln des drei-
einigen Got
tes selbst verwirklicht wird. Diese Auffassung wird durch den Zusammenhang mit den anderen particulae exclu-
sivae
der Reformation unterstrichen: Jesus Christus ist die Gnade Gottes in Person, die allein durch das Wirken Gottes zur
Wirkung kommt (sola gratia), indem Gott die Christusbotschaft der Schrift, die aufgrund ihres klaren Literalsinns keiner ergänzenden normativen Auslegung mit gleichem autoritativen Anspruch bedarf (sola scriptura), den Hörerinnen und Hö-
rern der Christusbotschaft durch das Wirken des Heiligen Geistes so gewiß macht, daß sie diese Botschaft im existenzbe-
stimmenden Vertrauen auf den dreieinigen Gott aufnehmen und aus ihr ihre gesamte Lebensorientierung empfangen (sola
fide).

These 6: Die vom christlichen Glauben bekannte und durch das solus Christus reformatorisch profilierte Einzigartigkeit
Jesu Chri
sti verpflichtet den christlichen Glauben zu der Überzeugung,
    -    daß alles Heil Gottes für die Welt in Jesus Christus verwirklicht ist;
    -    daß das Heil Gottes in Christus die Gestalt der unbedingten Zusage der Gnade hat;
    -    daß das Heil Gottes durch die vom Geist gewirkte Wahrheitsgewißheit des Glaubens verwirklicht wird;
    -    daß die Botschaft der Schrift 'Regel und Richtschnur' zum Verständnis des Handelns Gottes zum Heil der Welt ist.

These 7: Aufgrund der im Glauben an Jesus Christus gewonnenen Einsicht in das Handeln und Wesen Gottes als das allgegen-
wärti
ge, allmächtige, ewige Wesen und Handeln Gottes des Schöpfers, Versöhners und Vollenders glaubt der christliche Glau-
be Gott in allem Geschehen am Werk - auch in den Religionen. Auf der Grundlage des Christusglaubens begegnen wir den Re- ligionen in der Erwartung des Wirkens Gottes in ihnen. Dieses allmächtige und allgegenwärtige Wirken Gottes ist uns vor dem Eschaton verbor
gen, soweit es nicht durch die Selbsterschließung Gottes in Christus durch den heiligen Geist aufgedeckt wird.
Die Religionen sind insofern nicht aus einem wie auch immer gearteten 'religiösen apriori' anthropologisch zu erklären, son-
dern theologisch zu verste
hen. Dieser theologische Zugang impliziert aber die anthropologische Erkenntnis, daß der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit wesentlich auf Gott den Schöpfer bezogen und auf die Selbsterschließung Gottes angewiesen
ist.

These 8: Aufgrund der am reformatorischen solus Christus geschärften Unterscheidung zwischen dem Werk Gottes und dem
Werk der Menschen kann der christliche Glaube keinen 'Absolutheitsanspruch' für die menschlichen Institutionen erheben, in
denen auf das Handeln Gottes in menschlichem Interpretations- und Gestaltungshandeln geantwortet wird. Sehr wohl aber muß
der christliche Glaube - wie auch andere Religionen - den 'Wahrheitsanspruch' der eigenen Glaubensgewißheit vertreten, soweit
sie sich von
der Selbsterschließung Gottes konstituiert weiß, der die Wahrheit ist. Das solus Christus fungiert auch als fortlau-
fende Erinnerung daran, daß der Wahrheitsanspruch des Christentums allein in Christus und nicht im Christentum als einer in- stitutio humana begründet ist.

These 9: Die Verborgenheit des Handelns Gottes in der Welt, die auch seine Verborgenheit in der Welt der Religionen ein-
schließt,
wird nach Luthers Auffassung erhellt durch die Verborgenheit Gottes im Kreuz Christi, d.h. seine sub contrario ge- schehende Selbsterschließung: 'Ergo in Christo crucifixo estvera Theologia et cognitio Dei.' Aus diesem Grunde ist der christ-
liche Glaube
den anderen Religionen primär die Botschaft vom Erscheinen der Gnade und Wahrheit Gottes in Kreuz und Auf- erstehung Jesu Christi schuldig. Das Zeugnis von Jesus Christus als Zeugnis der gewiß gewordenen Wahrheit des Evangeliums
ist ein Implikat der Wahrheitsgewißheit des Glaubens und zugleich eine Forderung der Nächstenliebe. Die Form der Bezeu-
gung dieser Botschaft muß sich an ihrem Inhalt als Befreiungsbotschaft orientieren.

These 10: Der interreligiöse Dialog ist aus christlich-theologischer Sicht aufgrund der Wahrheitsgewißheit des christlichen
Glaubens geboten, die einschließt, daß der Gott, dessen Gnade und Wahrheit in Christus durch den Geist für den Glauben
erschlossen ist, auch in den anderen Religionen verborgen wirksam ist und auf die universale Offenbarung seiner Wahrheit für
seine gesamte Schöpfung abzielt. Die Einsicht in die Konstitution ihrer eigenen Glaubensgewißheit fordert und ermöglicht es,
daß Christen auch die Gewißheiten von Angehörigen anderer Religionen respektieren und tolerieren und erwarten, von ihnen
in Zustimmung und Widerspruch zu lernen. Es gibt insofern einen genuinen, nicht-relativistischen Pluralismus aus Glauben.

These 11: Interreligiöser Dialog wird unmöglich, wenn die Wahrheitsansprüche der Dialogpartner im Dialog ausgeklammert
werden. Dann begegnen sich nur noch die kulturellen Ausdrucksformen religiöser Überzeugungen. Erst im Dialog der Wahr- heitsgewißheiten begegnen sich die Religionen. Dialog wird dann möglich, wenn die jeweiligen Dialogpartner sich gegensei-
tig die Selbstdefinition ihrer eigenen Position gewähren und ihre Interdependenz aus der Perspektive der eigenen Glaubens- überzeugung bestimmen können. Das Medium des Dialogs wird dabei erst im Vollzug des Dialogs durch den Versuch der Übersetzung der eigenen Glaubensüberzeugung
in die Sprache der anderen und ihrer Überzeugungen in die eigene Sprache geschaffen. Das Ziel des Dialogs ist immer größeres wechselseitiges Verständnis, auch wenn dies die Differenzen stärker her- vortreten läßt als die Gemeinsamkeiten. Die Kritik an den Ausdrucksformen der Glaubensüberzeugungen anderer Religionen
wird dann an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie mit der Selbstkritik des Christentums verbunden ist, die sich darauf rich-
tet, daß die institutiones humanae an die Stelle Gottes und seiner Wahrheit gestellt wurden. Der interreligiöse Dialog dient da-
rum den einzelnen Religionen zur religiösen Kritik der Idolatrie.

These 12: Interreligiöser Dialog muß sich im Kontext des praktischen Zusammenlebens der Religionen und Weltanschauungen
in
der Situation des weltanschaulich-religiösen Pluralismus bewähren. Er hat nicht zuletzt seine Bedeutung darin, die unter- schiedlichen Basisorientierungen der Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft füreinander transparent zu machen. Das ist
eine wesentliche Voraussetzung für die Kooperation von Mitgliedern unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungsge- meinschaften zur Verwirklichung eines jeweils aus ihren eigenen Perspektiven wahrgenommen und begründeten bonum com-
mune der Gesellschaft. Für Christen bewährt sich in dieser durch den interreligiösen Dialog ermöglichten Kooperation die im Glauben an Jesus Christus erkann
te und im Christusbekenntnis formulierte Erkenntnis des Wesens Gottes als Liebe im Tun
der Liebe als Erfüllung des Willens Gottes.