F. SCHWEITZER, Postmoderner Lebenszyklus und Religion.
Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh 2003;

Der postmoderne Lebenszyklus: Was ist er eigentlich und welche Bedeutung hat er für die Kirche und die (praktische)
Theologie? Das ist
die Ausgangs- und Schlüsselfrage, der sich der Autor - Professor für Praktische Theologie/Religions-
pädagogik an der Evangelisch-Theolo-
gischen Fakultät der Universität Tübingen - im vorliegenden Buch stellt. Auf-
grund intensiver Forschungs- und Lehrerfahrung auch in den
USA nimmt er dabei auch die Situation in der us-ameri-
kanischen Gesellschaft mit in den Blick. Nach der Aussage des Autors selbst hat das
Buch essayistischen Charakter
und wendet "sich nicht in erster Linie an eine im engeren Sinne wissenschaftliche Leserschaft" (9). In sie
ben Kapiteln
geht es sodann dem "post-modernen Lebenszyklus" im einzelnen nach, wobei jeweils ein Kapitel zu Beginn wie auch
am
Schluß eher grundsätzlichen Reflexionen gewidmet ist.

Im ERSTEN KAPITEL erläutert der Autor das Phänomen der "Postmoderne" sowie insbesondere seine Auswirkungen
auf den menschli-
chen Lebenszyklus. Der Lebenszyklus ist sehr viel differenzierter geworden in der Postmoderne, un-
terliegt häufigeren Wandlungen und ist
individualisierter. Die Gestaltung des Lebenszyklus wird deshalb für den ein-
zelnen zu einer weit anspruchsvolleren Aufgabe, nicht zuletzt
weil allgemein anerkannte Idealbilder für das jeweilige
Lebensalter - die im übrigen auch viele Opfer erzeugt haben - ihren Leitbildcharakter
weitgehend verloren haben.
Auffällig ist dabei, dass auch die Religiosiät nicht - wie im Rahmen der überkommenen Säkularisierungsthese
häufig
vermutet - generell zurückgegangen wäre, sondern dass auch diese sich zunehmend pluralisiert, individualisiert und
privatisiert.
Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Kirchen für viele fragwürdig. Für die folgenden Kapitel
erläutert der Autor eine indukti
ve Methodologie, mit welcher er sich sukzessive dem Phänomen des postmodernen
Lebenszyklus zuzuwenden sucht.

Für die Kinder, so führt der Autor im ZWEITEN KAPITEL aus, bedeutet der postmoderne Lebenszyklus ein weit
weniger klares und
geordnetes Hineinwachsen in ein monoreligiös geprägtes Umfeld als dies noch in der Moderne
der Fall war. Bereits für Kinder ist die Er
fahrung von Religiosität plural und wird - oft auch deshalb - zur Privatsache.
Kinder, so heißt es häufig, sollen sich in dieser Pluralität selbst
orientieren und entscheiden dürfen. Angesichts der
Tatsache freilich, dass auch bereits Kinder das Bedürfnis haben, über grundlegend exi
stentielle Fragen inbezug auf
ihr Leben zu kommunizieren, spricht Schweitzer von einem "Recht der Kinder auf Religion und auf religi
öse Erzie-
hung"
(55).

Auch für das nach Schweitzer als solches erst mit der allgemeinen Schulpflicht im 20. Jahrhundert entstandene Jugend-
alter
ist nach
Schweitzer (mit Berufung auf Erikson) für eine erfolgreiche Identitätsbildung eine akzeptierte Weltan-
schauung notwendig: "Diese Welt-
anschauung isterforderlich, um den Jugendlichen das Gefühl zu geben, daß ihre
Stellung in Gesellschaft und Geschichte einen Sinn
hat" (68). Religion im Jugendalter, so der Autor, habe sich heute
"in hohem Maße pluralisiert und individualisiert... Viele Jugendliche
gehen mit religiösen Traditionen selektivum
und wählen für sich einzelne Elemente aus einer Tradition aus, ohne sich um den inneren
Zusammenhang oder gar
die Würde dieser Tradition weiter zu kümmern"
(75). Dies werde häufig begleitet von einer "skeptische(n) Haltung
gegenüber allen Wahrheitsansprüchen, besondersim Bereich von Religion... Es gebe einfach viel zu viele Wahrheits-
ansprüche,
als daß man sie jemals überprüfen könne" (76). Aufgabe christlicher Verkündigung sei es vor diesem
Hintergrund, sich "gemeinsam
mit den Jugendlichen auf die konfligierenden Wahrheitsansprüche...einzulassen
...
(denn)... Auch wer an einer christlichen Erziehung interessiert ist,muß heute andere Wahrheitsansprüche und
Überzeugungen aufnehmen"
(86). Aus der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben könne überdies den
Jugendlichen die Fähigkeit vermittelt werden, "sich selbst als ein Fragment zu akzeptie
ren, das niemals Ganzheit
oder Vollendung erreicht"
(89).

Das VIERTE KAPITEL ist einer, so Schweitzer, spezifisch neuen Phase des postmodernen Lebenszyklus, der sog.
Postadoleszenz
gewidmet, die der Autor etwa im dritten Lebensjahrzehnt angesiedelt sieht. Diese Phase ist gekenn-
zeichnet durch ein Herauswachsen
aus den Unsicherheiten und identitätsentwickelnden Schwierigkeiten des Jugend-
alters gleichzeitig aber durch ein noch nicht Ange-
kommensein im - auch wirtschaftlich - selbstständigen Erwachsen-
sein. In dieser Lebensphase liegen derzeit die Kirchenaustritts-
zahlen am höchsten; umgekehrt dürfte die Zahl
der kirchlichen Kommunikationsangebote für die oft noch als Single lebenden
Angehörigen dieser Altersgruppe am
geringsten sein. Schweitzer schlägt vor, "größte Sorgfalt darauf zu verwenden, die Sinnstruk-
turen der Lebens-
welten junger Menschen zu 'lesen', zu interpretieren und zu verstehen"
(111) und ggf. anzuschließen an die etwa zu Umweltproblemen, Frieden und weltweiter Gerechtigkeit entstehenden "freien Initiativen und die im Umfeld von
Kirche
angesiedelten Organisationen, die für junge Erwachsene sehr attraktiv sein können" (112). Darüber hinaus
gebe "es einen klaren
Bedarf für Angebote, die sich direkt auf Lebenssituationen und -fragen richten, die für diese
Stufe desLebenszyklus von zentraler
Bedeutung sind... (dabei geht es) um Fragen wie das Verlassen der Herkunfts-
familie, die Wahl einer beruflichenLaufbahn, von
Intimität, Beziehungen, Eheschließung oder sogar schon Scheidung"
(112).

Das im FÜNFTEN KAPITEL zur Sprache kommende postmoderne Erwachsenenalter ist nach Schweitzer nicht mehr
so ausge
prägt von einer gesunden Generativität geprägt wie sie noch von Erikson für das Erwachsenenalter beschrieben
wurde; vielmehr ent
hält das Erwachsenenalter "nach heutiger Erkenntnis... zahlreiche Krisen und mehrere Wendepunkte"
(120). Auch für die Ange
hörigen dieser Altersstufe ist die Religiosität weitaus pluraler und privater geworden.
Kirche und Theologie sollten in dieser Phase
hilfreich sein, das Familienleben zu bewältigen und hierbei als Leit-
bild die "egalitäre Familie"
(Mann und Frau haben etwa in gleichem Maße an bezahlter Arbeit, an der Versorgung
der Kinder sowie an anderen häuslichen Verantwortlichkeiten An
teil/133f) propagieren.

Für das im SECHSTEN KAPITEL beschriebene sog. dritte Alter, in dem die Menschen einerseits von ihrer Erwerbs-
arbeit ent
pflichtet, andererseits aber noch rüstig und unternehmungslustig sind, ist es - nach Erikson - wichtig, den
eigenen Lebensweg als
etwas Notwendiges und Unersetzliches sehen zu lernen (141). Oft werden in diesem Alter heute
noch sehr vielfältige neue Aktivi
täten entwickelt. Hierbei kommt es aus kirchlicher Sicht darauf an, dass "die Definiti-
onsmacht in diesem Bereich nicht nur bei
Werbung und Konsum liegt" (154), sondern die Menschen dazu ermutigt
werden, sich auch kreativ und selbstständig
in das Gemeinwesen einzubringen.

Warum Schweitzer dem sog. vierten Lebensalter kein eigenes Kapitel widmet, erläutert er nicht; stattdessen blickt
er im SIEB
TEN und abschließenden KAPITEL auf das Anliegen des gesamten Buches resümierend zurück. Hierbei
werden keine wesent
lichen neuen Einsichten mehr vorgetragen. Insgesamt hat er ein sehr aufschlußreiches Buch
verfasst, das dazu verhilft, gegenwär
tige gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen und auch viele sich hieraus
ergebende Herausforderungen für Kirche und (vor
allem Praktische) Theologie nahmhaft zu machen.


 
 
Herbert Frohnhofen, 21. November 2003