Während es zum ersten gehörte, daß die Kirche ihren festen
Platz in der Gesellschaft hatte und diesen als den ihr selbstverständ-
lich zustehenden reklamierte, wird die jetzt beginnende Phase dadurch charakterisiert
sein, daß die Kirche ihren Platz und ihren Stand je neu suchen muß.
Während die frühere Phase es mit sich brachte, daß viele Menschen
zwar >sakramentalisiert<, aber
nicht >evangelisiert< wurden (Kardinal Hume, 1982/S. 25), lebt die
neue Phase davon, daß die Kirchenglieder sich offen, freiwillig,
persönlich engagiert und verleiblicht zum Bund mit Gott bekennen.
Allerdings gibt es insbesondere inbezug auf letzteres bislang große
Vorbehalte. Gerade weil in der vergangenen Epoche eine Entpersönlichung
des Christwerdens aufgrund von außen her erwarteter, pflichtgemäßer
Sozialisa- tionsprozesse sehr geför-
dert wurde und auch vielleicht weil das persönliche Engagement in einer
auf Massenmedien angelegten Gesellschaft für die
meisten Menschen heute nicht im Mittelpunkt steht, fällt eine in
der neuen Epoche notwendige und heilbringende Ver- persönlichung und
Verleiblichung der Beziehung zu Gott vielen Mitmenschen heute besonders schwer
(31). "Viele befürchten für sich persönlich das Schlimmste,
wenn sie sich Gott leibhaft-persönlich anvertrauen (was wird er jetzt
noch al-
les von mir fordern?), oder halten solche Schritte für zu 'naiv', um
sie vor der 'neuzeitlichen' Vernunft verantworten zu können.
Ob sie wissen, welche befreienden Freiheiten sie verpassen, wenn sie sich
gegensie abschirmen?" (37)
Möglicherweise spielt hierbei auch eine Rolle, daß Gott von
vielen nur als Schöpfer- und nicht als (trinitarischer) Bundes-
gott gesehen wird, so daß auch hierdurch die Aufnahme einer persönlichen
Beziehung zu Gott erschwert wird. Vor diesem Hintergrund plädiert Mühlen
für neue liturgische Formen, durch die der Aufbau einer persönlichen
und verleiblichten Gottes- beziehung den heutigen Menschen leichter fällt.
("Konkret: Ist es richtig, in der Osternacht die ganze Gemeinde zu fragen: 'Widersagt ihr... Glaubtihr?' Wäre es nicht sinnvoller, darüber nachzudenken: Wie kann die österliche Vorbereitungszeit fürkleine Gruppen in der Gemeinde eine echte 'Exerzitienzeit' werden? Und nur diese kleinen Gruppenerneuern in der Osternacht vor der Gemeinde Tauf- und Firmversprechen." (32))
Der Buchtitel >Kirche wächst (neu) von innen< meint also nicht
den Rückzug in eine geschichtslos-unkritische 'Innerlichkeit', sondern
enthält tiefgreifende gesellschaftliche und politische Implikationen.
Es geht Mühlen also um eine 'bundesgemäße' Gesamtreform
der Kirche mit möglichen Auswirkungen auf eine 'bundesgemäße'
Solidarität innerhalb der Gesellschaft.
Eine neue Bezeugung des Evangeliums in die Gesellschaft hinein setzt jedoch
zunächst eine neue innerkirchliche Reform vor-
aus: eine "Erneuerung aus der Taufe" (37).
"Nach der Auflösung der Symbiose von Kirche und Gesellschaft in
Europa kann die Kirche ihre ureigenste Identität nur wieder- finden und
ein gesellschaftliches Profil zeigen im wirgemäßen Gegenüber
zur Gesellschaft... Eine neue Inkulturation des Evan- geliums in die freiheitlich-demokratische
Kultur hinein ist nur möglich ohne neue imperiale Tendenzen:
im Miteinander mit
den gesellschaftlichen Kräften, das u.U. kontrafaktische Interventionen
keineswegs ausschließt" (37).