M. LÜTZ, Der blockierte Riese. Psycho- Analyse der katholischen Kirche, Paderborn 1999;
Manfred Lütz, Theologe und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, berufstätig als Chefarzt eines psychia- trischen Krankenhauses in Köln, versucht in diesem Buch, moderne familientherapeutische Verfahren auf eine Großorganisation zu übertragen. Als "hinreichend marode Großorganisation, die möglichst allen ein Begriff ist", bietet
sich für ihn die katholische Kirche dazu als Musterfall geradezu an (9).

"Wo wäre das, was man so landläufig 'verklemmt' nennt, wohl besser zu studieren? Wo kann man Resignation, Frustration und bedrückte Stimmung bis
hin zu veritablen Jammerdepressionenzuverlässiger und uneingeschränkter finden? Wo ist eine Problemtrance schneller herstellbar?"
(9)

Allerdings: "Die katholische Kirche ist gewiß der erfolgloseste Selbstmörder der ganzen Menschheitsgeschichte. Zweitausend Jahre lang ist es ihr trotz
eifriger Bemühungen nicht gelungen,sich selbst den Garaus zu machen. Da wäre von dieser merkwürdigen Einrichtung womöglich nochetwas zu lernen. Gleichzeitig könnte man dabei aber auf verborgene Kräfte stoßen, die für eine Therapie des Patienten nützlich sind"
(10).

 

I.    Einblicke - Vor der Therapie

      Ausgangspunkt ist für Lütz ein beliebiger Visitationsbesuch des Bischofs in einer Pfarrgemeinde. Diskutiert
      werden mit Sicherheit vier Themen:

      (1)    Sexualität und Kirche bzw. der Papst und die Kondome,
      (2)    der Zölibat als Problem bzw. wir haben nicht mehr genug Priester,
      (3)    Frauen und Kirche bzw. ohne Frauenpriestertum keine Gleichberechtigung,
      (4)    der römische Zentralismus bzw. wir haben sowieso nichts zu sagen.

      Da der Bischof auf alles - wie man vorher weiß - nur unzureichend antworten kann, ist die Frustration
      vorhersehbar, also: Problemtrance.
 

II.    Der Patient - Zur Situation der katholischen Kirche
1.    Feststehende Riten

       Nach Lütz gibt es in der kath. Kirche inzwischen einen Konservativismus der vermeintlich >Progressiven<.
       Sie bleiben immer an denselben Themen hängen. Dabei sind "doch erfüllte Sexualität, Selbstverwirklichung als
       Mann oder als Frau und schließlich das Projekt gesellschaftlicher und politischer Freiheit die irdischen Utopien
       einer Menschheit, die vor höheren Zielen resigniert hat. Von der katholischen Kirche erwartet man offenbar,
       jenen zerbrechlichen Zielen einen geradezu sakralen Bestand zu geben - und reagiert mit enttäuschter Em-
       pörung, wenn diese Kirche sich dem verweigert" (17).

2.    Vaterlose Gesellschaft und Heiliger Vater

       Angesichts einer vaterlosen Gesellschaft mit innerer und äußerer Abwesenheit vieler Väter wundert es nicht,
       daß viele Menschen sich gerade die männlich geführte Kirche bzw. deren Führungspersonen aussuchen, um
       ihr pubertäres Gehabe auszuleben. Dabei werden allerlei Ammenmärchen über die Kirche verbreitet (Leib-
       feindlichkeit ihrer Lehre, Hexenverbrennung im Mittelalter u.ä.), die völlig an den Realitäten vorbei gehen.

3.    Machtvolle Familienmythen

       Ähnlich wie früher Katholiken und Protestanten stehen sich heute oft >Konservative< und >Progressive< in
       der Kirche so gelähmt und bewegungslos gegenüber wie ein im unüberbrückbaren Streit gealtertes Ehepaar.

4.    Drama ohne Ende

       Aus dieser Konstellation entwickelt sich oft ein >Drama-Dreieck< mit >Rettern<, >Verfolgern< und >Opfern<.
 

III.   Scheiternde Therapien - Über schlechte Erfahrungen mit der Psychotherapie

        Lütz nennt einige Beispiele für aus seiner Sicht negative Begegnungen von Psychotherapie und Kirche:
        Drewermann, Funke, und der verbreitete unkritische Umgang mit der Gesprächspsychotherapie von Rogers.
 

IV.    Skeptische Hoffnung - Der Paradigmenwechsel in der Psychotherapie

        Lütz macht kurz mit der systemischen Therapie bekannt und mit dem Versuch, die Ressourcen der Klienten
        stärker zu beachten.
 

V.     Blockierungen - Sichere Wege zum Ungl¸cklichsein und ihre sorgfältigen kirchlichen Umsetzungen

        Im Rückgriff auf Watzlawicks >Anleitung zum Unglücklichsein< zeigt Lütz auf, wie in der Kirche diese Anleitung
        glänzend befolgt wird:

        (1)    das Utopiesyndrom: der unrealistische Wunsch nach dem Frauenpriestertum
        (2)    die großen Vereinfachungen: vorfindlich in kirchlichen Jammertalbeschreibungen
        (3)    die Starrheit der Rollen: findet sich in den verschiedenen Parteien der Kirche
        (4)    die a-historische Einstellung: vorfindlich im Ruf nach den Bischöfen; diese, so Lütz, haben die Kirche
                 noch nie aus einer Krisenzeit geführt.
 

VI.    Lösungen - Was die Kirche über die Verwendung von Ochsen und Zahnlücken lernen kann

        Lütz stellt verschiedene therapeutische Verfahren zur Lösung von denk- und Gefühlsblockaden vor  und
        kommt dabei zurück auf: Paul Watzlawick, Milton Erickson, Steve de Shazer und Gunther Schmidt.

        Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Watzlawick: dieser komme zu dem Schluß, daß die
        Gesundheit eines Systems sich dadurch zeige, daß es sich immer wieder "wie Münchhausen" aus dem Sumpf
        der Krise ziehen könne (71).
 

VII.  Der blockierte Riese - Über die Kräfte der katholischen Kirche

       Gesucht wird hier nach Lebenszeichen, nach den Ressourcen der kath. Kirche.

1.    Die katholische Lösung - Eine Lösung zweiter Ordnung

       Im Rückgriff auf den Gnadenstreit im 16. Jahrhundert empfiehlt Lütz die damalige >Lösung<: Vermeintlich
       Unversöhnliches nebeneinander stehen lassen. Vom ultimativ vorgegebenen >Entweder-oder-Rahmen< zu
       einem >Sowohl-als-auch-Rahmen< übergehen.

2.    Psychologisch unmöglich, aber wirklich katholisch - Die Orden und das Exklusivitätsverbot

       Auch und gerade in der Vielfalt der katholischen Orden und Lebensformen: Niemand ist mehr katholisch
       als die anderen.

3.    Perspektivwechsel - Was die katholische Kirche von einem Stammtisch unterscheidet

       Ganz wichtig in der Kirche und im Unterschied zu den meisten Stammtischen und Ideologien: das Unfehlbar-
       keitsverbot. Niemand ist unfehlbar. Selbst der Papst als Leiter der Kirche ist definitionsgemäß in den aller-
       meisten seiner Äußerungen fehlbar.

4.    Beleuchtungswechsel - Der Weg aus der Problemtrance

       Dem vielfältigen Gejammer in der Kirche über rückläufigen Kirchenbesuch u.ä. sollte ein Perspektivwechsel
       entgegengestellt werden: Warum kommen so viele Menschen Sonntag für Sonntag in die Kirchen? Warum ist
       die Sonntagsmesse die meistbesuchte >Massenveranstaltung< in unserem Land? Warum ist nicht nur mehr
       alles Karstadt oder Kaufhof? Die offensichtlich von der Kirche in hohem Maße vermittelten Sinn- und Wer-
       teorientierungen gilt es in den Blick zu nehmen, positiv zu betonen und zu verstärken.

5.    Utilisieren von Problemen - Über die Zahnlücken der Kirchengeschichte

       Den vielfältig genannten Vergehen der Kirche in ihrer Geschichte (Kreuzzüge, Hexenverbrennungen,
       Ausbeutung, Inquisition u.a.) sind die ebenfalls sehr vielfältigen Positiva gegenüberzustellen. Es gibt auch
       wahre Heilsgeschichte.

6.    Bewältigungsstrategien - Bewährte Methoden, Rückfällen zu begegnen

       Die Kirchengeschichte lehrt, daß die Kirche bereits zahlreiche Krisen bewältigt hat; und zwar nicht dadurch,
       daß sie gejammert hat und in Problemtrance gefallen ist, sondern dadurch, daß sie sich auf ihre Quellen
       besonnen hat: Gott in Jesus Christus und im Heiligen Geist.

7.    Ressourcen - Warum "dieser Saustall zweitausend Jahre nicht untergegangen ist"

       Wichtig und hilfreich ist die Konzentration auf die Wesensvollzüge der Kirche:

       (1)    Martyria (kirchliches Bekenntnis)
       (2)    Leiturgia (kirchlicher Gottesdienst)
       (3)    Koinonia (kirchliche Gemeinschaft)
       (4)    Diakonia (kirchliches Sozialengagement, Caritas).

       Gelebt wird oft (2) im Sonntagsgottesdienst und (3) beim Pfarrfest. Geringer ausgeprägt wenn nicht sogar
       fehlend sind in den Gemeinden oft (1) und (4).
 

VIII.    Der entfesselte Riese - Ausblicke nach der Therapie

           Wen die ausführlich dargelegten Ressourcen der Kirche wieder angezapft werden und lebendig wirken
           dürfen, wird - so Lütz - die Kirche aus ihrer derzeitigen Krise wiederauferstehen.