Die Gesellschaftsanalyse des in England lehrenden Soziologen ZYGMUND
BAUMAN, so Lehmann, ste-
he paradigmatisch für viele ähnliche Sichtweisen: Der Anspruch der Moderne, die Ambivalenzen
unseres
Lebens aus der Welt zu schaffen, sei gescheitert. Erst die Postmoderne
erkenne, dass der Mensch lernen
müsse, mit dem Zwei- und Vieldeutigen
zu leben, nur dann könne er auch tolerant sein und z.B. Fremden-
feindlichkeit, Rassismus
und Nationalismus beherrschen. Man wolle deshalb jetzt z.B. auf Letztbegründun-
gen verzichten, strebe mehr nach vorläufigen
Hypothesen.
Lehmann glaubt nicht, dass dieser postmoderne Optimismus berechtigt ist.
Relativismus und Pluralismus bekämen dabei die Oberhand. Die derzeitige
bioethische Diskussion sei ein Musterbeispiel dafür. Die Fra-
ge sei,
wie in einer solchen Situation Wege in die Zukunft gefunden werden können: "Wie kann man den Kompass
finden in einer Gesellschaft ohne Zentrum? Kann man so einfach auf Gewissheiten verzichten
oder schleichen sich darunter
unkontrollierte Vorstellungen viel leichter ein?"
Auf die Sinnfrage stoßen wir oft erst, wenn wir einen Orientierungsverlust
bemerken und Sinndefizite er-
fahren. Ähnlich ist es mit der Frage nach Werten. Oberste Werte sind für die meisten
Menschen Glücklich-
sein, Gesundheit, die Familie, ein gutes Einkommen und entsprechender Lebensstandard. Die Gesellschaf-
ten werden
aber durch gemeinsame Wertüberzeugungen und Normen zusammengehalten. Damit ist ei-
ne verpflichtende Rechts-
und Sozialordnung gemeint, die sich auf Normen wie Menschenwürde, Freiheit
und Gerechtigkeit bezieht, die bei aller
Bedingtheit jedoch letztlich der gesellschaftlichen Verfügbarkeit ent-
zogen
sind. Außerdem setzt jedes menschliche Zusammenleben, das nicht auf
Zwang begründet ist, die An-
erkennung des Mitmenschen und damit seiner
Menschwürde voraus.
Die unvermeidliche Frage nach einem letzten Grund dieser Menschenwürde treibt uns weiter. Wenn der Satz wahr ist, den Ernst-Wolfgang Böckenförde vor Jahren formuliert hat, nämlich:
"Der freiheitliche säkula-
risierte Staat lebt von Voraussetzungen,
die er selbst nicht garantieren kann" (Staat - Gesellschaft - Freiheit. Studien
zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt 1976, 60), dann ist
die Frage unvermeidlich, wie die vielen einzelnen Menschen, die sich jeweils
ihre eigene Lebensorientierung und ihr religiöses Be-
kenntnis wählen,
zu einer - wenigstens minimalen - Gemeinsamkeit kommen, die für den Staat als einheits-
stiftende Kraft wirkt.
In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, dem Grundgesetz, sind
mit Absicht ein Katalog der Grundrechte und an ihrer Spitze die Menschenwürde an den Anfang gestellt. So bestimmen
heute in
der Tat weithin die Menschenrechte den inhaltlichen Zusammenhalt und das tragfähige Fundament der Verfassung.
Dies ist eine Revolution in der Geschichte der Verfassung: Am Anfang stehen
nicht die Staatsziele, sondern das Menschenbild.
Die im Grundgesetz ebenfalls garantierte "Freigabe" von Weltanschauung
und Religion, die mit dem Schutz der Glaubens- und Religionsfreiheit sowie des Gewissens des Einzelnen einhergeht,
bedeutet auf
der einen Seite eine elementare Gewährleistung menschlicher Freiheit. Auf der anderen Seite bringt diese
Freigabe auch eine Verbannung aus der öffentlichen Bedeutungssphäre mit sich. Die Kirchen müssen ih-
ren Ort, der
durch eine solche vieldeutige "Freigabe" entstanden ist, in ihrer positiven Bedeutung nützen.
Der gesellschaftliche >Pluralismus< bedeutet ein gleichberechtigtes
Neben- und so auch mögliches Gegen-
einander verschiedener Lebens- und Weltanschauungen. Dem Wertepluralismus werden
seine schier un-
begrenzte Offenheit und damit auch Unsicherheit angelastet.
Weil keine gemeinsamen Grundwerte heraus-
gestellt und für verbindlich
erklärt werden, sei dieser Pluralismus schuld an den Sinn- und Orientierungskri-
sen.
Das Stichwort "Pluralismus" ist aber zur Erfassung des Ganzen allein unzureichend. Der Begriff des
Pluralismus stellt nämlich die Vielfalt
und den Wettbewerb, die Verschiedenheit und die reiche Auswahl-
möglichkeit heraus, leistet aber von sich aus nicht die
Vermittlung hin auch zu Gemeinsamkeit und Einheit,
die komplementär dazugehören. Der "wahre Postmodernismus" sucht
deshalb selbst nach neuen Verbind-
lichkeiten (vgl. H.-L.Ollig SJ, Philosophische Zeitdiagnose im Zeichen des Postmodernismus. Überlegun-
gen
zur jüngsten deutschen Postmoderne-Diskussion, in: Theologie und Philosophie 66 (1991) 338-374.
Bei aller Anerkennung des faktisch vorhandenen Wertepluralismus in den
modernen Gesellschaften ist die Frage nach gemeinsamen Maßstäben
des menschlichen Zusammenlebens unverzichtbar. In den Jah-
ren 1976/77 (Vgl.
zusammenfassend mit Literaturangaben Karl Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten,
Freiburg i.Br. 1993, 101 - 108; vgl. zum Umfeld: Gesellschaftlicher Wertewandel und christlicher Glaube, in: ebd.,
128 - 136) wurde die sogenannte Grundwerte-Debatte geführt.
Es ging dabei um jene Normen, die das sittliche Fundament aller individuellen
und sozialen Maßstäbe des menschlichen Verhaltens und des gelungenen Zusammenlebens
darstellen. Man darf diese Frage nicht zu gering einstufen. Der "Preis" der Freiheit und des Pluralismus ist hoch.
Auch wenn die öffentliche Meinung in der Annahme verbindlicher Maßstäbe
des Zusammenlebens der Men-
schen schwankt und unsicher ist, muss der Staat für die Anerkennung der "Grundwerte",
wie sie vor al-
lem in der Verfassung dokumentiert sind, eintreten. Die Pflege des ethischen Konsenses in der
Gesellschaft
ist aber nicht die ausschließliche, ja auch nicht die vorrangige Aufgabe des Staates. Er teilt sie mit allen Kräf-
ten
der freien Gesellschaft, wie zum Beispiel Medien, Verbänden, Parteien,
Wirtschaft, Gewerkschaften und
Kirchen. Die Kirchen haben dabei keine Monopol-Verpflichtung
für die Sorge um die Grundwerte. Sie dür-
fen sich auch nicht in die Rolle
des einzigen Garanten der Moralität in der säkularisierten Gesellschaft drän-
gen lassen. Der Auftrag und die Möglichkeit
der Kirchen, geistige und moralische Orientierung zu leisten,
darf von den anderen gesellschaftlichen Gruppen und vom Staat nicht
dazu benutzt werden, sich selbst der
Förderung der Grundwerte zu entziehen und die Kirchen zu ethischen Stabilisatoren der
Gesellschaft oder
gar zu Handlangern des Staates zu degradieren. Die Kirchen dürfen freilich auch nicht gettohaft
in ihr eige-
nes Inneres flüchten, gleichsam in die Nestwärme der Gemeinde. Sie dürfen die säkulare Welt nicht einfach
fremden Mächten überlassen. Sie müssen vielmehr eine größere "innere" Nähe gerade auch zur sensiblen und
verletzlichen
Eigenstruktur des modernen Staates gewinnen.
Inmitten der gesellschaftlichen Segmentierung der Lebensbereiche, der sozialen
Differenzierung und einer hochgradigen Pluralisierung der Werthaltungen
muss der christliche Glaube sich zuerst selbst treu blei-
ben. In einer
wachsend säkularen Welt und angesichts einer hohen Pluralisierung kann nur die innere Fes-
tigkeit
einer Gemeinschaft auf die Dauer das Überleben von Glaubensüberzeugungen
und Lebensanschau-
ungen gewährleisten. Die Sozialform des christlichen
Glaubens - Gruppe, Gemeinschaft, Gemeinde, Ver-
bände, Bistum, Zusammenschlüsse auf der
überdiözesanen Ebene je nach Sprache und Kultur, Weltkirche -
wird gewiss eine noch größere Bedeutung
erhalten.
Einheit der Kirche ist immer Einheit in der Vielfalt und in der Fülle
der Gaben. Die Kirche kann der zunehmenden Pluralisierung der Lebensstile
nur dann die rechte Antwort entgegenhalten, wenn sie in sich selbst einen
großen Reichtum geistlicher Lebensformen und Lebensstile schafft und
zulässt, wie es sich heu-
te in der Eigenart vieler Gemeinden mit ihrem
je eigenen Gesicht und auch angesichts vieler geistlicher Ge-
meinschaften bereits
abzeichnet.
Innerhalb einer solchen Gesamtsicht hat die Kirche gewiss auch die Funktion
eines Korrektivs.
Wenn in einer Gesellschaft Wertorientierungen radikal in einseitige
Richtungen umschlagen, muss sie - auch in Form des Protests und des
Streits - um die Integration mit Werten kämpfen, die viele
für überholt
betrachten. Man denke nur an den Schutz des Lebens, vor allem des
ungeborenen Kindes, an die Ordnung der Sexualität in-
nerhalb und
außerhalb der Ehe, an Werte wie eheliche Treue, Mut zum Kind, Stärkung von Solidarität und
Subsidiarität.
Die Kirchen pflegen Grundwerte auf verschiedene Weise. Das tägliche
Gebet um den Frieden in allen Eucharistiefeiern rund um die Welt ist mehr als alle abstrakten Grundwerte, aber sie werden
natürlich durch
so etwas konkret realisiert. Der Dekalog (Zehn Gebote), aus langer menschlicher Erfahrung und wachsen-
der
Glaubenseinsicht geboren, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie aus der Mitte der Bibel heraus ge-
rade die Religionen,
die sich auf sie stützen, auf ihre Weise wirksame "Grundwerte" verkündigt haben. In
diesem Licht kann man auch die
schöpferische Wiederbelebung der Katechismus-Tradition sehen, die sich
z.B. einer Neu-Interpretation des Dekalogs bedient
und dabei auch ohne Zwang gegenwärtige Fragestellun-
gen in sich aufnehmen kann (Vgl. z.B. Katholischer Erwachsenenkatechismus.
Zweiter Band: Leben aus
dem Glauben, hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Freiburg i.Br. 1995).
Die Botschaft des Evangeliums ist notwendigerweise tiefer und reicher als
die immer relativ abstrakt blei-
benden "Grundwerte" einer Verfassung. Die Kirchen leisten ihren Dienst für die sogenannten
"Grundwer-
te" des freiheitlich-demokratischen Staates am besten, wenn sie ihre spezifische Eigenart und ihre ureigene
Sendung mit Entschiedenheit ausüben. Überall wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Nächsten verkün-
digt werden,
sittliche Weisung für den Alltag des Lebens geschieht und die Gemeinschaft der Kirche gelebt
wird, werden - mindestens indirekt
- auch "Grundwerte" gefördert und gepflegt. Die innersten christlichen
Wahrheiten,wie sie nicht zuletzt auch in der
Bergpredigt zur Aussage kommen, sind zwar aus- strahlungsfä-
hig, in mancher
Hinsicht universalisierbar und geben zum Beispiel der Friedenserziehung wichtige
Impulse,
sie sind selbst aber keineswegs "Grundwerte" im strengen Sinn des Wortes, da
sie - dies gilt etwa besonders
für das Gebot der Feindesliebe und für
das Ideal der Demut - sehr eng an die Annahme und den Vollzug des
Glaubens
gebunden sind. Je überzeugender das konkrete christliche Ethos in seiner
Bestimmtheit und mit all
seinen Verschiedenheiten im gesellschaftlichen Raum gelebt und bezeugt wird, um so mehr dient die Kirche
dem Erhalt lebenswichtiger
Grundwerte in der Gesellschaft. Aber sie erschöpft sich nicht in einer Art Zivil-
Religion.