INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und ihre
Verfehlungen in ihrer Vergangenheit (Neue Kriterien 2) Einsiedeln-Freiburg 2. Aufl. 2000;
Diese Studie einer Internationalen Theologischen Kommission unter Vorsitz des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, diente zur Vorbereitung und als "Interpretationshilfe" (Müller 15) für die öffentliche Vergebungsbitte des Papstes Johannes Paul II. am 1. Fastensonntag 2000 für die von Mitgliedern der Kirche begangenen Sünden. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben wurde sie vom Münchner Dogmatiker Gerhard Ludwig Müller.

Im Vorwort erinnert der Herausgeber an die die Kirche betreffende Ambivalenz: Sie ist heilig, weil sie das Heilsinstrument des heiligen Gottes in der Geschichte ist; sie ist aber auch stets der Reinigung bedürftig, weil die in ihr lebenden Menschen auch Anteil haben an der Sündigkeit der Welt. Deshalb gehört zum Weg der Kirche immer auch das Bekenntnis zur Erneuerung und die Bitte um Vergebung. Schuldübernahme und Bitte um Verzeihung dienten dabei einer "Reinigung desGedächtnisses".


"Das Ziel, das sich die Kommission mit diesem Text setzt", so heißt es in der Einleitung (19f), "besteht nicht darin, einzelne historische Vorkommnisse zu prüfenund zu bewerten, sondern die Voraussetzungen zu klären, die die Grundlagebilden für die Reue über die Verfehlungen aus der Vergangenheit." 

I.    Kapitel. Das Thema: Schuldbekenntnisse in Vergangenheit und Gegenwart

Vor dem II. Vatikanum gibt es "in der gesamten Geschichte der Kirche keinenPräzedenzfall einer vom Lehramt selbst formuliert Vergebungsbitte für die Verfehlungen der Vergangenheit... Ganz selten ergab sich die Gelegenheit, dass kirchlicheAutoritäten - Päpste, Bischöfe oder Konzilien - öffentlich Schuld und Verfehlungenanerkannt haben, für die sie die Verantwortung trugen" (25). Als Beispiel wird Papst HADRIAN VI. genannt, der am 25. November 1522 aufrichtig bekannte:

"Missbräuche in geistlichen Dingen, Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Ärgeren verkehrt hat: So ist es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von denPäpsten auf die Prälatenverpflanzt hat. >Wir alle<, Prälaten und Geistliche, >sind vom Wege desRechtes abgewichen, und es hab schon lange keinen einzigen, der Gutes tat< (Ps 14,3). Deshalb
müssen wir alle Gott die Ehre geben und uns vor ihm demütigen; ein jeder von uns soll betrachten,weshalb er gefallen, und sich lieber selber richten, als dass er von Gott am Tage seinesZornes gerichtet werde" (25f; zitiert nach E. ISERLOH, Die protestantische Reformation, in: Handbuch der Kirchengeschichte IV, hg. v. H. JEDIN, Freiburg u.a. 1967, 111).

Hier wird also Schuld unter dem unmittelbaren Vorgänger Hadrians, nämlich Papst LEOS X., anerkannt, aber
keine Vergebungsbitte formuliert.

Erst Papst PAUL VI. richtet eine Vergebungsbitte an Gott und an eine Gruppe von Zeitgenossen. Er bat in der Eröffnungsansprache zur 2. Konzilssession "Gott unddie getrennten Brüder des Orients" um Verzeihung und erklärte sich selbst dazu bereit, die Anfeindungen zu vergeben, denen die katholische Kirche ausgesetzt war.
Die Vergebungsbitte und auch das Angebot der Vergebung betraf hier allein die Sünde der Spaltung unter den Christen.

Das II. VATIKANUM nimmt diese Vergebungsbitte auf (UR 7) und schaut über die Sünde der Spaltung hinaus
auch auf anderes:

"Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen einesunzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zubedauern. Durch die dadurch entfachten Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen schufen
sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben undWissenschaft" (GS 36).

Ähnlich beurteilt das Konzil die Entstehung des Atheismus (GS 19);  und es beklagt Manifestationen des Antisemitismus (NA 4).

Papst JOHANNES PAUL II. ist über diese Erklärungen noch weit hinausgegangen und hat die Vergebungsbitte auf eine Vielzahl von historischen Vorgängen ausgedehnt. Hierzu gehören beispielsweise das "Unrecht gegen Nicht-Katholiken" in Mähren, sowie das Unrecht gegen die indianische Urbevölkerung in Lateinamerika
und bei der Versklavung der Schwarzen in Afrika (30).

Im Apostolischen Schreiben TERTIO MILLENNIO ADVENIENTE kündigte der Papst an, daß das Jubiläum des Jahres 2000 die Gelegenheit biete zu einer "Reinigung desGedächtnisses" der Kirche "von allen Denk- undHandlungs- weisen, die im Verlauf desvergangenen Millenniums geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals
darstellten" (TMA 33).



II.    Kapitel. Biblische Zugänge zur Frage: Heiliges Gottesvolk und Schuld

Neben Bekenntnissen von individuellen Sünden gibt es auch in der Bibel Bekenntnisse von Sünden des ganzen Volkes:

-     eine erste Reihe von Texten zeigt das ganze Volk, wie es in einem besonderen Moment seiner Geschichte
      seine Sünden vor Gott bekennt;
-     eine zweite Gruppe von Texten legt das Bekenntnis der Sünden des Volkes vor Gott auf die Lippen einzelner
      oder mehrerer religiöser Autoritäten;
-     eine dritte Textgruppe stellt das Volk oder einen seiner Repräsentanten vor, wie diese die Sünden der
      Vorfahren ins Gedächtnis rufen, ohne jedoch die Sünden der gegenwärtigen Generation zu erwähnen;
      sehr häufig werden die Sündenbekenntnisse, die die Schuld der Vorfahren erwähnen, ausdrücklich auf die
      Irrtümer der gegenwärtigen Generation bezogen und mit ihnen in verbindung gebracht.

In allen Fällen , in denen die "Sünden der Väter" erwähnt werden, richtet sich das Bekenntnis ausschließlich an Gott. Als Hauptgrund hierfür wird die biblische Theozentrik genannt (42). "Aufs ganze gesehen darf... der bedeutende Beitrag des AltenTestaments zum Thema in der Vergebungsbitte für Unrecht aus der Vergangenheit be-
stehen" (44).

"Entscheidend für das Verständnis von Schuld und Sünde im gesamten Neuen Testament ist das Bewusstsein von der absoluten Heiligkeit Gottes" (44). Der Christ ist darum berufen zu lieben und zu vergeben nach einem Maß, das alles menschliche Maß von Gerechtigkeit übersteigt. Jesus verlangt von seinen Jüngern, immer zur Vergebung bereit zu sein, wenn sich jemand an ihnen versündigt hat, so wie auch Gott selbst immer Vergebung gewährt (Mt 6,12.12-15).

Die Feier des Jubeljahres alle 50 Jahre hatte zum Ziel, die soziale Grundverfassung des Volkes Gottes zu bewahren und die soziale Unabhängigkeit und Freiheit auch der kleinen Familien des Landes wiederherzustellen.



III.    Kapitel. Systematische Darstellung

De Kirche ist Heilige und Sünderin zugleich. Die Heiligkeit der Kirche ist begründet in den Sendungen des Sohnes und des Heiligen Geistes. Dieser Heiligkeit der Kirche muss die Heiligkeit in der Kirche entsprechen:

"Die Anhänger Christi sind von Gott nicht kraft ihrer Werke, sondern aufgrund seines gnädigenRatschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft KinderGottes und der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden. Sie müssen daher dieHeiligung, die sie empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben bewahren und zur vollen Entfaltungbringen" (LG
40).

Über die Kirche als Sünderin sagt Augustinus:

"Die Kirche in ihrer Gesamtheit bittet: Vergib uns unsere Schuld! Die Kirche leidet noch unter demMakel, den Furchen und Falten. Aber mittels des Bekenntnisses werden die Furchen und Falten geglättet,durch das Bekenntnis wird auch der Makel abgewaschen. Die Kirche verharrt im Gebet, um durch dasBekenntnis ihre Reinigung zu empfangen. Solange Menschen auf der Erde leben, wird es so bleiben"
(Sermo 181,5,7; PL 38,982).

Aber in welchem Sinn versteht sich die Kirche als Sünderin? "Die Kirche versteht sichals Sünderin, insofern sie sich in mütterlicher Solidarität die Last der Sünden ihrer Glieder selber auflädt, denn sie möchte in ihrer mütterlichen Liebe mitwirken an derÜberwindung der Sünde und dem daraus entstandenen Schaden für den einzelnen und dieGemein- schaft... Die Kirche geht selbst den Weg der Buße und Umkehr zur Erneuerungdes Lebens in der Gnade mit" (67).



IV.    Kapitel. Historische und theologische Beurteilung geschichtlicher Vorgänge

Inbezug auf die Sünden und Fehlleistungen der Vergangenheit ist im einzelnen zu fragen: "Was hat sich wirklich ereignet? Was wurde verifizierbar gesagt und getan? Erstwenn es auf diese Fragen eine wissenschaftlich korrekte Antwort gibt, kann man auchuntersuchen, ob das, was sich wirklich zugetragen hat, mit dem Evangelium in Einklang
steht... Nur wenn man unter diesen Voraussetzungen zu dem moralisch gewissenUrteil kommt, dass sich Glieder der Kirche wissentlich und mit freiem Willen gegen denGeist des Evangeliums verhalten haben und dieses Fehlverhalten, obwohl sie es konnten, nicht unterlassen haben, hat es einen Sinn, wenn die Kirche von heute für dieSünden der Vergangenheit Buße tut und um Vergebung bittet" (69).

Darüberhinaus werden verschiedene Kriterien einer angemessenen historischen Forschung benannt.



V.    Kapitel. Moralische Bewertung

"'Das Gedächtnis reinigen' ist der Versuch, aus dem persönlichen und gemeinschaftlichen Bewusstsein alle Formen von Ressentiment und Gewalt zu überwinden, die unsdie Vergangenheit als Erbe hinterlassen hat" (82).

Als Beispiele werden im einzelnen besprochen: die Spaltung der Christenheit, die Anwendung von Gewalt im
Dienst an der Wahrheit sowie das Verhältnis von Christen und Juden.



VI.    Kapitel. Pastorale und missionarische Perspektiven

"Was sind (nun) die pastoralen Ziele der Anerkennung einer Verantwortung der Kirchefür die Sünden ihrer Glieder in der Vergangenheit, und warum tut sie hierfür Buße?Welche Implikationen sind damit für das Leben des Volkes Gottes verbunden? Wassind die Auswirkungen auf die Mission der Kirche und ihren Dialog mit den verschiedenen Kulturen und Religionen?" (97)

Als pastorale Ziele werden genannt:
-    die Reinigung des Gedächtnisses;
-    eine ständige Erneuerung des Volkes Gottes;
-    das Zeugnis für die Barmherzigkeit Gottes.

Als Folgerungen für das Leben der Kirche werden genannt:
-    sie muß ein Gespür entwickeln für die unterschiedliche Rezeption der einzelnen offiziellen kirchlichen Akte
     der Buße;
-    es muß das adäquate Subjekt benannt werden, das zu dem Akt der öffentlichen Vergebungsbitte für die
     Fehler aus der Vergangenheit autorisiert ist: die Hirten der Ortskirchen und der Papst;
-    es ist festzustellen, daß zuerst Gott der Adressat der Vergebungsbitten ist;
-    es sind die möglichen Gesten einer Wiedergutmachung ins Auge zu fassen;
-    es ist der pädagogische Aspekt anzuführen: die Früchte der Vergebungsbitte sind Befreiung, Versöhnung und
     Freude, die denen zuteil werden, die diesen Weg aus dem Glauben heraus wagen.

An Konsequenzen für Mission und interkulturellen Dialog sind zu erwarten:
-    ein Anwachsen der Glaubwürdigkeit der Evangeliumsverkündigung;
-    ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Ökumene;
-    ein Zeugnis für die Wahrheit, Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes;
-    die Bereitschaft auch von anderen, einem solchen Beispiel zu folgen.



VII.    Kapitel. Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend sagt Papst Johannes Paul II.:

"Ihre (d.i. der Kirche) Vergebungsbitte ist kein Trick, der sich mit Demut tarnt. DieVergebungsbitte ist auch keine Absage an ihre zweitausendjährige Geschichte, dieso reich ist in allen Bereichen der Caritas, der Kultur und der Heiligkeit. Die Kircheantwortet jedoch auf eine unwidersprechliche Herausforderung der Wahrheit, dasses neben all den positiven Aspekten auch die menschlichen Grenzen und Schwächengegeben hat, die in vielen Generationen der Jünger Christi zu verzeichnen sind"(108f; Ansprache vom 1.9.99, in: L'Osservatore Romano, 2.9.99,4)