1. Das christliche Konzept der Freiheit aus Glauben verfügt
in der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr
über ein Sinnstiftungsmonopol, hat aber weiterhin
einen wichtigen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie
menschliche Freiheit in einer Zeit hoher
gesellschaftlicher Komplexität verstanden, verantwortet
und gelebt werden kann. Dazu müssen
die Kirchen die Kraft zur Erneuerung aufbringen.
2. Hierbei kommt es darauf an, den alle Moral überschreitenden
Gehalt des christlichen Glaubens in seiner
Bedeutung für die Orientierungsprobleme
der Gegenwart zu verdeutlichen.
3. In einer mit anderen Weltgegenden unvergleichbaren
Weise gehen West- und Mitteleuropa durch eine
Phase der Entkirchlichung und Entchristlichung.
Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung - im
Osten ein weit größerer als
im Westen - meint, das eigene Leben ohne die Frage nach einem über dieses
Leben hinausweisenden Sinn meistern zu
können.
4. Entsprechend massiv ist die Krise der Kirchen.
Dabei sind auch die Kirchen von der Institutionendistanz
betroffen, die zu den allgemeinen Kennzeichen
des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses gehört.
5. In einer Gegenbewegung wächst die Zahl
der Menschen, die davon überzeugt sind, daß sich aus einer
nur
auf das menschliche Selbst zentrierten
Individualisierung keine lebensfähige Gestalt gemeinsamen Le-
bens ergibt. Pluralisierung und Wertewandel
in der Gesellschaft machen eine Verständigung über die
Werte erforderlich, die, unbeschadet unterschiedlicher
Überzeugungen und Lebensformen, gemeinsam
anerkannt werden können und müssen.
6. Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen
persönliche Gewißheit zu vermitteln und sich an
der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen
Leitbild zu beteiligen. Das christliche Glaubensange-
bot ist dabei neu verständlich zu machen.
7. Eine zweite Aufgabe der Kirche verbindet sich deshalb
mit dem Thema verantworteter Freiheit. Im
christlichen Glauben ist ein Verständnis
menschlicher Freiheit enthalten, das Individualität und Sozialität,
Selbstbestimmung und Verantwortung für
den Nächsten miteinander verbindet.
8. Eine dritte Aufgabe besteht darin, die Sozialformen
des christlichen Glaubens zu erneuern. Die Tat-
sache, daß mit der Sehnsucht der Menschen
nach Gemeinschaft gerade in Deutschland Schindluder ge-
trieben wurde, darf nicht daran hindern, neue Gemeinschaftsgestalten
des Glaubens zu entwickeln, die
an der christlichen Freiheit ihren entscheidenden Maßstab
haben.
9. Die gegenwärtige Krise der Kirche
ist im Kern eine Orientierungskrise. Der Ansatzpunkt für die Er-
neuerung
der Kirche liegt darin, daß sie ihre eigene Botschaft ernst nimmt. Das geschieht, wenn sie
die Wahrheit
Gottes feiert, wenn sie
hilft, den Menschen als das Ebenbild Gottes zu entdecken, und
wenn sie zu
mündigem Glauben ermutigt.
10. Die Krise der Kirche zeigt sich vor allem als Mitgliederkrise.
Kirchliches Handeln muß vorrangig dar-
auf ausgerichtet sein, Menschen
für den Glauben zu gewinnen, ihnen den Zugang zur Taufe zu
öffnen
und sie zur Mitgliedschaft
in der Kirche zu ermutigen.
11. Die Krise der Kirche wirkt sich vor allem als
Finanzkrise aus. Die Kirchensteuereinnahmen gehen
zurück; aber sie bleiben eine wichtige
Einnahmequelle. Ergänzend sollten neben den Kollekten und
den Vermögenserträgen das flächendeckend
einzuführende Kirchgeld sowie die Errichtung besonde-
rer Stiftungen und Fördervereine vorzugsweise
für Bildungseinrichtungen, für diakonische Einrich-
tungen und für
den Bereich der kirchlichen Denkmalpflege
zur Finanzierung der Kirchen dienen.
12. Das Ausmaß beruflicher Arbeit in der Kirche
verringert sich. Dringender Reformbedarf besteht
vor allem in der inhaltlichen Ausrichtung
beruflicher Arbeit in der Kirche. Im Blick auf alle kirch-
lichen Berufsgruppen sind die Bejahung des Glaubensthemas,
die Bereitschaft zur Mitverantwortung
für die Kirche als Institution, die Weiterentwicklung und
der Einsatz der eigenen beruflichen Kompe-
tenz sowie die Ermutigung und Befähigung zu ehrenamtlicher
Mitarbeit als Schlüsselaufgaben geltend
zu machen.
13. Auftragsorientierung, Transparenz, Verständlichkeit
sowie Finazierbarkeit sind wichtige Kri-
terien für eine Erneuerung der kirchlichen
Organisationsstrukturen. Deren Schlüssel liegt in der
Regionalstruktur.
14. In der Wende des Jahres 1989 und im Prozeß der Vereinigung Deutschlands ist den Kirchen -
und in besonderer Weise der
evangelischen Kirche - eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu-
gewachsen. Jetzt geht es darum, diese
Aufgabe nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Zu-
sammenhang
zu sehen und weiterzuentwickeln.
Dabei lassen sich drei Schwerpunkte erkennen: Die
Kirche hat eine genuine Bildungsaufgabe,
die sich nicht auf die Bildungsprozesse in den Gemein-
den und in kirchlichen
Bildungseinrichtungen beschränkt,
sondern das öffentliche Bildungswesen ein-
bezieht. Sie hat eine politische
Verantwortung, die sich
in ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und Men-
schenrechte, für Frieden
und die Bewahrung der Natur konkretisiert.
Sie trägt schließlich eine unauf-
gebbare Verantwortung dafür,
daß in der Gesellschaft eine Kultur
des Helfens Raum behält und wei-
terentwickelt wird.