W. HUBER, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel
    und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 2. Aufl. 1999;
Huber stellt seinem Buch selbst ein Resümee in Thesenform voran (9-17). Dazu hier eine Kurzform:
I.    Der Wandel der Gesellschaft und die Aufgabe geistiger Orientierung

1.    Das christliche Konzept der Freiheit aus Glauben verfügt in der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr
       über ein Sinnstiftungsmonopol, hat aber weiterhin einen wichtigen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie
       mensch
liche Freiheit in einer Zeit hoher gesellschaftlicher Komplexität verstanden, verantwortet
       und gelebt
werden kann. Dazu müssen die Kirchen die Kraft zur Erneuerung aufbringen.

2.    Hierbei kommt es darauf an, den alle Moral überschreitenden Gehalt des christlichen Glaubens in seiner
       Bedeutung für die Orientierungsprobleme der Gegenwart zu verdeutlichen.

3.    In einer mit anderen Weltgegenden unvergleichbaren Weise gehen West- und Mitteleuropa durch eine
       Phase der Entkirchlichung und Entchristlichung. Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung - im
       Osten ein weit größerer als im Westen - meint, das eigene Leben ohne die Frage nach einem über dieses
       Leben hinausweisenden Sinn meistern zu können.

4.    Entsprechend massiv ist die Krise der Kirchen. Dabei sind auch die Kirchen von der Institutionendistanz
       betroffen, die zu den allgemeinen Kennzeichen des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses gehört.

5.    In einer Gegenbewegung wächst die Zahl der Menschen, die davon überzeugt sind, daß sich aus einer
       nur auf das menschliche Selbst zentrierten Individualisierung keine lebensfähige Gestalt gemeinsamen Le- 
       bens ergibt. Pluralisierung und Wertewandel in der Gesellschaft machen eine Verständigung über die
       Werte erforderlich, die, unbeschadet unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen, gemeinsam 
       anerkannt werden können und müssen.



II.    Drei Aufgaben der Kirche

6.    Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen persönliche Gewißheit zu vermitteln und sich an
       der
Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen. Das christliche Glaubensange- 
       bot ist dabei neu verständlich zu machen.

7.    Eine zweite Aufgabe der Kirche verbindet sich deshalb mit dem Thema verantworteter Freiheit. Im
       christlichen Glauben ist ein Verständnis menschlicher Freiheit enthalten, das Individualität und Sozialität,
       Selbstbestimmung und Verantwortung für den Nächsten miteinander verbindet.

8.    Eine dritte Aufgabe besteht darin, die Sozialformen des christlichen Glaubens zu erneuern. Die Tat- 
       sache, daß mit der Sehnsucht der Menschen nach Gemeinschaft gerade in Deutschland Schindluder ge- 
       trieben wurde, darf nicht daran hindern, neue Gemeinschaftsgestalten des Glaubens zu entwickeln, die 
       an der christlichen Freiheit ihren entscheidenden Maßstab haben.


III.    Wege aus der Krise der Kirche

9.      Die gegenwärtige Krise der Kirche ist im Kern eine Orientierungskrise. Der Ansatzpunkt für die Er- 
         neuerung der Kirche liegt darin, daß sie ihre eigene Botschaft ernst nimmt. Das geschieht, wenn sie 
         die Wahrheit Gottes feiert, wenn sie hilft, den Menschen als das Ebenbild Gottes zu entdecken, und 
         wenn sie zu mündigem Glauben ermutigt.

10.    Die Krise der Kirche zeigt sich vor allem als Mitgliederkrise. Kirchliches Handeln muß vorrangig dar-
         auf ausgerichtet sein, Menschen für den Glauben zu gewinnen, ihnen den Zugang zur Taufe zu
         öffnen und
sie zur Mitgliedschaft in der Kirche zu ermutigen.

11.    Die Krise der Kirche wirkt sich vor allem als Finanzkrise aus. Die Kirchensteuereinnahmen gehen
         zurück; aber sie bleiben eine wichtige Einnahmequelle. Ergänzend sollten neben den Kollekten und  
         den Vermögenserträgen das flächendeckend einzuführende Kirchgeld sowie die Errichtung besonde-
         rer Stiftungen und Fördervereine vorzugsweise für Bildungseinrichtungen, für diakonische Einrich- 
         tungen und für den Bereich der kirchlichen Denkmalpflege zur Finanzierung der Kirchen dienen.

12.    Das Ausmaß beruflicher Arbeit in der Kirche verringert sich. Dringender Reformbedarf besteht 
         vor allem in der inhaltlichen Ausrichtung beruflicher Arbeit in der Kirche. Im Blick auf alle kirch- 
         lichen Berufsgruppen sind die Bejahung des Glaubensthemas, die Bereitschaft zur Mitverantwortung 
         für die Kirche als Institution, die Weiterentwicklung und der Einsatz der eigenen beruflichen Kompe-
         tenz sowie die Ermutigung und Befähigung zu ehrenamtlicher Mitarbeit als Schlüsselaufgaben geltend 
         zu machen.

13.    Auftragsorientierung, Transparenz, Verständlichkeit sowie Finazierbarkeit sind wichtige Kri-
         terien für
eine Erneuerung der kirchlichen Organisationsstrukturen. Deren Schlüssel liegt in der
         Regionalstruktur. 


IV.    Die Kirche als intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft

14.    In der Wende des Jahres 1989 und im Prozeß der Vereinigung Deutschlands ist den Kirchen - 
         und in
besonderer Weise der evangelischen Kirche - eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu- 
         gewachsen.
Jetzt geht es darum, diese Aufgabe nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Zu- 
         sammenhang zu sehen und weiterzuentwickeln. Dabei lassen sich drei Schwerpunkte erkennen: Die
         Kirche hat eine genuine Bildungsaufgabe, die sich nicht auf die Bildungsprozesse in den Gemein-
         den und in kirchlichen Bildungseinrichtungen beschränkt, sondern das öffentliche Bildungswesen ein- 
         bezieht. Sie hat eine politische Verantwortung, die sich in ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und Men- 
         schenrechte, für Frieden und die Bewahrung der Natur konkretisiert. Sie trägt schließlich eine unauf- 
         gebbare Verantwortung dafür, daß in der Gesellschaft eine Kultur des Helfens Raum behält und wei- 
         terentwickelt wird.