Grözinger sieht die Konturen der Postmoderne vor allem durch drei Entwicklungen bestimmt:
1. die Individualisierung der Lebenswelten (dies
bedeutet, daß gegenwärtig immer mehr Aufgaben an das Individuum
delegiert werden, die bisher von Traditionen
und Institutionen übernommen wurden);
2. den Verdacht gegen die großen Erzählungen
(dies bedeutet, daß all jene Theorie-Gebäude, die den Anspruch
erheben,
uns die Welt gültig und umfassend zu
erklären und von einer solchen vereinheitlichenden Erklärung her
das menschliche
Handeln zu verpflichten, besonders aufgrund
der verheerenden Erfahrungen im 20. Jahrhundert, obsolet geworden sind);
3. die Erfindung des eigenen Lebens (dies bedeutet,
daß die Menschen aufgrund ihres Verzichtes auf die großen Erzählun-
gen vor der Notwendigkeit stehen, selbst
eine Sinngestalt für ihr Leben zu finden bzw. je neu zu konstruieren).
Vor diesem Hintergrund sieht Grözinger die Zukunftsaufgabe der Kirchen
darin, die Erinnerung an die überlieferten Ge-
schichten des Glaubens an Gott wachzuhalten und damit für die jeweilige
>Erfindung des eigenen Lebens< der Zeitgenos-
sen fruchtbar zu machen.
"Zudem hat sich die Großerzählung >Christentum< immer
wieder mit anderen Großerzählungen in einer höchst problemati-
schen Weise verbunden. In den Hexenverfolgungen ist die Großerzählung
>Christentum< am Werk im Verein mit der Groß- erzählung
>Patriarchat<. In der beginnenden Neuzeit verschwistern sich
die prtestantische Erzählung von der Prädestinati-
on< mit der neu entstehenden Erzählung vom >Merkantilismus<
zu dem, was Max Weber die Großerzählung von >Prote-
stantischer Ethik und Geist des Kapitalismus< genannt hat. Die Großerzählung
>Mission< hat sich zeitweise verbündet mit
der aggressiven Großerzählung von der kulturellen Überlegenheit
Europas über die anderen Teile der Welt<. Von daher
kann es nicht verwundern, daß für viele Menschen das Ende
der Groß-Erzählung Christentum weniger als beklagenswerter
Verlust, sondern als Befreiung empfunden wird. Diese Wahrnehmung und Empfindung
gilt es ernst zu nehmen. Gleichwohl
wäre es für Theologie und Kirche töricht, dieser Wahrnehmung
und Empfindung einfach unreflektiert nachzugeben. Es gilt vielmehr, differenziert
darauf zu antworten."
Herbert Frohnhofen, 21. November 2003