Dieses Buch ist die bearbeitete und wesentlich erweiterte,
sowie als Habilitationsschrift angenommene Fassung
des sehr bekannt gewordenen Buches >Kirche im Gegenwind. Zum Umbruch der
religiösen Landschaft< (Frei-
burg21998) des Freiburger Soziologen. Ausgangspunkt
der Analysen ist die Feststellung, daß in unserer derzei-
tigen Lebenssituation nicht mehr die Frage, ob sondern welche
Zukunft die Religion in unserer Gesellschaft
habe, soziologisch zu diskutieren lohne, sowie was dabei unter Religion zu
verstehen sei. Wenn nämlich - nach
Niklas Luhmann - mit >Religion< solche Kommunikationen gemeint sind,
die "auf die Offenheit der Sinnhori-
zonte mit Schließung antworten", dann lasse sich die Gesellschaft als
das umfassende Kommunikationssystem
gar nicht als säkularisiert, im Sinne von nicht-religiös, denken
(12f). Allerdings, so der Autor, ist die Frage
welche Art von Religiosität sich in der Zukunft in unserer Gesellschaft
als tragfähig und sinnvoll erweist, wie
auch die Sozialgestalt der Kirchen sich ändern wird, um den veränderten
Verhältnissen in der Gesellschaft
Rechnung zu tragen.
Neben dem - vom Autor detailliert beschriebenen - Fortwirken
einiger konfessioneller Unterschiede erkennt Ebertz
"Tendenzen zur Entkonfessionalisierung, d.h. zurRelativierungkonfessioneller
Differenzen,... die als Resultat des fort-
schreitenden Bedeutungsverlusts des Konfessionellen und seiner fehlenden
sozialen Bestätigung im modernen Alltags-
leben interpretiert werden können" (55). "Konfessionen scheinen
somit immermehr als (primäre) Soziaisationssysteme,
welche die Lebensführung sowie der Steuerungvon sozialen Beziehungen
persönlichkeitsformend ausrichten, auszufal-
len und für die Mehrheitder Kirchenmitglieder allenfalls noch ein bestimmtes
Synkretismusprofil hervorzubringen so-
wie die Adresse zu bestimmen, bei der man seine religiösen Serviceleistungen
bezieht"(56). So gilt für Ebertz: "Aus
einem ehemaligen Über-, Unter- und Gegeneinanderder Konfessionen (im
19. Jahrhundert) ist - salopp formuliert -
ein Nebeneinander (seit der Abschaffung der Staatskirche in der Weimarer
Republik und der Erfahrung in der NS-
Zeit) und schließlich ein Miteinander (seit Gründung der
Bundesrepublik), wenn nicht ein 'Durcheinander' gewor-
den" (63).
Im Anschluß an einen detaillierten Rückblick
auf die kirchenbezogene Religion und Religiosität seit den 50er Jahren
des 20. Jh.s stellt Ebertz zusammenfassend fest: "Die Kirchen verlieren
nicht nur an subjektiver Bedeutung in den per-
sönlichen Relevanzierarchien, an politischer Unterstützung,
an Vertrauen und an öffentlicherKommunikationskompe-
tenz, sie haben auch die Definitionshoheit des Religiösen im
Land, derreligiösen Inhalte und der religiösen Rollen
verloren" (132). Die beiden großen Kirchen scheinen Ebertz "ähnlich
wie ARD und ZDF in der Medienlandschaft
des deutschen Fernsehens, das zugleich spielerisches Schnuppern undpunktuelles
Zappen erlaubt, ohne konvertie-
ren zu müssen - eine Art Grundversorgungsauftrag im religiösen
Feld erhalten zu haben" (137).
Die seit Jahrzehnten fortschreitende und für moderne
Gesellschaften typische Entflechtung von Sozialstruktur (als
Ensemble handlungsregulierender Institutionen und Organisationen), Kultur
(als handlungsorientierende Sinn- und
Wertmuster) und Einzelmensch (als Sinn- und Rollenträger
mit einer persönlichen Identität) hat "erhebliche Konse-
quenzen für das persönliche Selbstverständnis (Identität),
für dasZusammenleben (Sozialität) und die Erfahrung wie
Deutung von sozialer Wirklichkeit.Ein gemeinsamer Nenner dieser Konsequenzen
dürfte in einem Zuwachs an Kom-
plexität, in einerReduktion von zentralistischen Kontrollchancen und
in der Generalisierung von Fremdheit liegen,
also in einer massiven Steigerung von Kontingenz,Inkohärenz ud Dissens"
(140). Konsequenz hieraus für die Kir-
chen ist ihr Verlust an "sozialem Kurswert", also die Tatsache,
daß sie "keinen übergeordneten Status mehr erfolg-
reich beanspruchenkann" (Kaufmann, zitiert: 141). "Christlichkeit,
Kirchlichkeit und Konfessionalität -ja alle
Formen von (expliziter) Religion - geraten damit unter Relativierungsdruck:
in den Sog der Möglichkeit, das Da-
sein immer auch anders sehen und dementsprechend auch anders handeln
zu können" (141).
Auch innerhalb der Kirchen gibt es erhebliche Differenzierungsprozesse
inbezug auf Organisation,
theologische Inhalte, Liturgie u.v.a. Auch dies führt zur Relativierung
alles Kirchlichen.
Unter 'Entinstitutionalisierung' der Kirche versteht
Ebertz die "Erosion - die Verflüssigung, wenn nicht den
Kollaps - eines traditionalen, seit der Gegenreformation undverstärkt
seit dem19. Jahrhundert deutlich profilier-
ten Gefüges von Strukturen und normativen Vorstellungs-und Handlungseinheiten,
die ganz zentral die Vorstel-
lung diesseitiger, aber auch jenseitiger Vermittlungs- oder Stellvertretungsmächte
implizieren und sich um die
auch von Max Weber als spezifisch römisch-katholischidentifizierte
Leitidee der 'Heils-' oder 'Gnadenanstalt'
zentrieren.Es geht dabei um einen Prozeß, der nicht nur die Ebene
der pastoralen Interaktion und Kommunika-
tion, sondern auch die theologische Reflexion und sogar die kirchenoffizielle
Ebene der doktrinären Legitima-
tion und rituellen Symbolisation mit und seit dem II. Vatikanischen Konzil
umfaßt" (183).
Die Erosion der katholischen Gnadenanstalt, so entfaltet
Ebertz seine These weiter, "geht einher mit der massi-
ven Erosion der Akzeptanz ihrer traditionellen eschatologischenWissenstradition"
(206). Diese Erosion "erfaßte
in den letzten Jahrzehnten nicht nur... die Glaubensvorstellungen
der meisten Mitglieder der Kirche in Deutsch-
land. Sie erfaßtinzwischen auch... deren Repräsentanten,
ihre Prediger, Liturgen, Katecheten und Theologen,
selbst, zumindest deren kommunikative Äußerungen über die
postmortale 'Existenz' (207).
Der Ausdruck >religiöser Fundamentalismus<
kann nach Ebertz "als Sammelbezeichnung gebraucht werden
für die Anhänger solcher religiöser Protestbewegungen,
die'das Heilige' und die überkommenen 'Hüter' des Hei-
ligen durch moderne Strukturen und Prozesse innerhalb und außerhalb
des religiösen Feldes relativiert sehen
und gegen dieseBedrohung 'der heiligen Ordnung' zu Felde ziehen.
Diese 'heilige Ordnung' soll aus ihrer Sicht
als Letztwert behauptet und ihrem superioren Geltungsanspruch möglichst
'rein'zum Durchbruch verholfen wer-
den" (238f). Innerhalb des Spektrums katholisch-fundamentalistischer
Gruppen unterscheidet Ebertz solche mit
einer eher biblizistischen, einer eher traditionalistischen
und einer eher papalistischen Ausprägung, was
fließende Übergänge, Überschneidungen und Verflechtungen
einschließt (250).
Im Ausgang von Gerhard Schulzes (Erlebnisgesellschaft 1992)
Unterscheidung in fünf gesellschaftliche Milieus
(Niveau-, Harmonie-, Integrations-, Unterhaltungs- und Selbstverwirklichungsmilieu)
erklärt Ebertz, daß die
beiden 'jungen' Milieus (Unterhaltungsund Selbstverwirklichungsmilieu) von
den Kirchengemeinden am stärk-
sten abgekoppelt zu sein scheinen (267). Diese Milieuverengung trägt
nach Ebertz selbst wieder dazu bei, Ju-
gendliche in Distanz zu kirchlichen Gemeinden zu halten (269). Die Tatsache,
daß die Kirchengemeinden fak-
tisch vor allem durch das Harmonie- und Integrationsmilieu getragen würden,
bringe "Solidaritätsverengungen gegenüberbestimmten Randgruppen"
(271) mit sich.
Aus der Sicht des Autors "wächst die Wahrscheinlichkeit,
daß in Zukunft unter denKirhenmitgliedern der Sozial-
typ des religiösen 'Kunden' an Bedeutung gewinnen wird, dersituativ,
fallweise und punktuell die vor allem cari-
tativen und rituellen Angebote der zur Dienstleistungsorganisation
sich wandelnden Kirche nachfragt, diese ei-
gensinnigsynkretistisch uminterpretiert und dabei einem zur Minderheit
werdenden Pol aktiverkirchen- bzw. ge-
meindebezogener Religiosität mit ihrem kontinuierlichen und interaktivdichten
kirchlichen Gemeinschaftsleben
gegenübersteht. Damit wächst auch dieWahrscheinlichkeit, daß
die Kirche als Dienstleistungsorganisation die zumindestvorherrschende
kirchliche Sozialgestalt der überschaubaren Zukunft sein wird und
gerade diese Züge
an Profil gewinnen" (292).
"Neben und unterhalb der vorherrschenden Sozialgestalt
von Kirche als Dienstleistungsorganisation und als
milieuverengter Parochialgemeinde kristallisieren sich weiteremilieuspezifische
Formen von Kirche heraus:
Es bilden sich kirchinterne Differenzierungenassoziativer Art als
Minoritäten heraus, auch in Ergänzung und
Erweiterung des Spektrumsder traditionellen Ordensgemeinschaften.
Das vielfältige Panorama der neuen asso-
ziations- oder gruppenkirchlichen Sozialformen reicht von relativ
lockeren, religiös passagerenund selbstakti-
ven 'Szenen'..., Lesergemeinden, Initiativen und Bewegungen über festere
Vereinigungen bis hin zu Basisge-
meinden und ordensähnlichen Vergesellschaftungen mit- auch kanonisch
- verbindlicher Rechtsform" (292).
Kirche ist demnach in Zukunft soziologisch zu begreifen "als Ensemble
von zeitweiligmiteinander vereinigter,
jedenfalls mehr oder weniger auf- und auch gegeneinanderbezogener,
variabler Sozialformen des Christentums
im Rahmeneiner verblassendenkonfessionellen Tradition (294).