In den letzten Jahren ist diese Erfahrung jedoch
noch gesteigert worden. Man glaubte, dass die Moderne vielfach
gescheitert sei, auch wenn vielfach gar
nicht genügend gefragt worden ist, worin denn die Moderne besteht.
Einige meinten, die Moderne habe sich eine unlösbare Aufgabe gestellt.
Ihr Anspruch, die Welt durchschaubar zu
machen sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie wollte Ordnung schaffen,
eine Gesellschaft ohne Kon-
flikte konstruieren, einen Staat gründen, der
"zum Wohl der Allgemeinheit" alle Macht an sich zieht. Sie wollte
ein Universum der Eindeutigkeit, einen Garten
Eden. So sind viele Zielvorstellungen nicht erreicht worden:
absolute Wahrheit, reine Kunst, Humanität als solche, Gewissheit, Harmonie.
So hat der in England lehrende
Soziologe Zygmund Bauman (Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit...)
die These vertreten,
dieses Scheitern rühre hauptsächlich
daher, weil der Anspruch der Moderne an der grundsätzlichen Ambiva-
lenz der Welt und der Zufälligkeit unserer Existenz, unserer Gesellschaft und unserer Kultur gescheitert
sei. Jeder Versuch, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen, habe immer
nur neue Ambivalenzen erzeugt,
sodass ein Teufelskreis entstand, alles Ambivalente zu vernichten. Ein
neues Denken sei notwendig, das
ganz anders mit den Schattenseiten der
Moderne umgehe. Erst die Postmoderne verabschiede sich von
dem Versprechen, eine übersichtliche Welt zu schaffen. Sie erkennt, dass der Wille, die unabänderliche
Zweideutigkeit menschlicher Existenz aufzuheben, gleichbedeutend ist mit
dem Willen, den Menschen seiner
Freiheit und Unergründlichkeit zu berauben. Der Mensch müsse
lernen, mit dem Zwei- und Vieldeutigem
zu leben, nur dann könne man auch
tolerant sein und z.B. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und
Nationalismus beherrschen.
(Quelle: Karl Kardinal Lehmann, Die Zeit in Gedanken
erfasst. Ambivalenzen und Prospektiven.
Vortrag bei der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz in
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 3. Juli 2001)