Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (Fischer TB 12688) Frankfurt 1995


Die Wege in die Zukunft haben überall faszinierende Perspektiven aufgezeigt, die wohl am stärksten im Bereich
der Wirtschaft erkennbar und fruchtbar werden. Zugleich ist aber auch bei diesen neuen Wegen deutlich geworden,
wie sehr die Entwicklung auch von zwiespältigen Momenten geprägt ist. Es
gibt nicht nur die hellen, sondern auch
dunklen Seiten. Nun, so könnte man sagen, war das immer so. Die Vorderseite des Fortschritts war begleitet von

der Rückseite der meist unbeabsichtigten Nebenwirkungen, die weniger glanzvoll waren. In den letzten Jahrzehnten
war es nicht nur eine seichte und oberflächliche Zivilisations- und Technikkritik, die mit großer Skepsis die negativen
Folgen betonten, sondern ernsthafte philosophische und sozialwissenschaftliche Studien sprachen von der Dialektik
der Aufklärung und auch des zivilisatorischen Fortschritts
.

In den letzten Jahren ist diese Erfahrung jedoch noch gesteigert worden. Man glaubte, dass die Moderne vielfach
gescheitert sei, auch wenn vielfach
gar nicht genügend gefragt worden ist, worin denn die Moderne besteht.
Einige meinten, die Moderne habe sich eine unlösbare Aufgabe gestellt.
Ihr Anspruch, die Welt durchschaubar zu
machen sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie wollte Ordnung schaffen, eine Gesellschaft ohne Kon-

flikte konstruieren, einen Staat gründen, der "zum Wohl der Allgemeinheit" alle Macht an sich zieht. Sie wollte
ein Universum der Eindeutigkeit, einen
Garten Eden. So sind viele Zielvorstellungen nicht erreicht worden:
absolute Wahrheit, reine Kunst, Humanität als solche, Gewissheit, Harmonie. So hat
der in England lehrende
Soziologe Zygmund Bauman (Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit...) die These vertreten,
dieses Scheitern
rühre hauptsächlich daher, weil der Anspruch der Moderne an der grundsätzlichen Ambiva-
lenz der Welt und der Zufälligkeit unserer Exi
stenz, unserer Gesellschaft und unserer Kultur gescheitert
sei.
Jeder Versuch, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen, habe immer nur neue Ambivalenzen erzeugt,
sodass ein Teufelskreis entstand, alles Ambivalente zu vernichten. Ein neues Denken sei notwendig, das
ganz anders mit
den Schattenseiten der Moderne umgehe. Erst die Postmoderne verabschiede sich von
dem Versprechen, eine übersichtliche Welt zu
schaffen. Sie erkennt, dass der Wille, die unabänderliche
Zweideutigkeit menschlicher Existenz aufzuheben, gleichbedeutend ist mit dem Willen,
den Menschen seiner
Freiheit und Unergründlichkeit zu berauben. Der Mensch müsse lernen, mit dem Zwei- und Vieldeutigem
zu leben,
nur dann könne man auch tolerant sein und z.B. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und
Nationalismus beherrschen.

(Quelle: Karl Kardinal Lehmann, Die Zeit in Gedanken erfasst. Ambivalenzen und Prospektiven.
Vortrag bei der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz in der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 3. Juli 2001)