Theologie-Systematisch
Christologie
§ 3. Entfaltung der Christologie im NT
Texte - Christi Himmelfahrt

"Was aber wollen uns die Bibel und die Liturgie mitteilen, wenn es heißt, daß Jesus 'emporgehoben' wurde? Der Sinn dieses Ausdrucks ist nicht allein einem einzigen
Textabschnitt zu entnehmen, ebensowenig einem einzigen Buch des Neuen Testa-
ments, sondern einem aufmerksamen Hören auf die Heilige Schrift insgesamt. Der
Gebrauch des Verbums 'emporheben' stammt nämlich aus dem Alten Testament
und ist auf die Einsetzung in die Königswürde bezogen. Die Himmelfahrt Christi
bedeutet also an erster Stelle die Einsetzung des gekreuzigten und auferstandenen Menschensohnes in das Königtum Gottes über die Welt.

Es gibt allerdings einen tieferen, nicht unmittelbar wahrnehmbaren Sinn. In der Apostelgeschichte heißt es zunächst, daß Jesus 'emporgehoben' wurde (V. 9), und unmittelbar folgend wird hinzugefügt, daß er 'aufgenommen wurde' (V. 11). Das Ereignis ist nicht so beschrieben, als handle es sich um eine Reise in die Höhe,
sondern als ein Wirken der Kraft Gottes, die Jesus in den Raum der göttlichen
Nähe einführt. Die Gegenwart der Wolke, die 'ihn ihren Blicken entzog' (V. 9),
bezieht sich auf ein sehr altes Bild der alttestamentlichen Theologie und fügt den
Bericht über die Himmelfahrt in die Geschichte Gottes mit Israel ein, von der Wol-
ke des Sinai und über dem Bundeszelt in der Wüste bis hin zur leuchtenden Wolke
auf dem Berg der Verklärung. Dadurch, daß der Herr in die Wolke gehüllt darge-
stellt wird, wird schließlich auf dasselbe Geheimnis Bezug genommen, das auch im
Symbol des 'zur Rechten Gottes Sitzens' zum Ausdruck gebracht wird. Im zum Him-
mel aufgefahrenen Christus ist der Mensch in einer unerhörten und neuen Weise in
die Vertrautheit mit Gott eingetreten, der Mensch findet nunmehr für immer Raum
in Gott. Der 'Himmel' verweist auf keinen Ort über den Sternen, sondern auf etwas
viel Kühneres und Erhabeneres: Er verweist auf Christus selbst, die göttliche Per-
son, die voll und für immer das Menschsein in sich aufnimmt, auf ihn, in dem Gott
und Mensch für immer untrennbar vereint sind. Und wir nähern uns dem Himmel,  
ja wir treten in den Himmel in dem Maß ein, in dem wir uns Jesus nähern und in
Gemeinschaft mit ihm treten. Das heutige Hochfest Christi Himmelfahrt lädt uns
daher zu einer tiefen Gemeinschaft mit dem gestorbenen und auferstandenen Je-
sus ein, der unsichtbar im Leben eines jeden von uns gegenwärtig ist.

Aus dieser Perspektive begreifen wir, warum der Evangelist Lukas sagt, daß die Jünger nach der Himmelfahrt 'in großer Freude' nach Jerusalem zurückkehrten
(24,52). Der Grund ihrer Freude besteht in den Tatsache, daß das, was sich ereig-
net hatte, in Wahrheit keine Trennung war: im Gegenteil, sie hatten nunmehr die Gewißheit, daß der Gekreuzigte und Auferstandene lebendig war und in ihm der Menschheit für immer die Türen zum ewigen Leben geöffnet worden sind. Mit an-
deren Worten brachte seine Himmelfahrt nicht seine vorübergehende Abwesen-
heit von der Welt mit sich, sondern leitete vielmehr die neue, endgültige und un- zerstörbare Form seiner Gegenwart ein, dies aufgrund seiner Teilhabe an der kö- niglichen Macht Gottes... Das Hochfest der Himmelfahrt des Herrn sollte auch uns
mit Freude und Begeisterung erfüllen, gerade wie es den Aposteln geschah, die
vom Ölberg 'in großer Freude' aufbrachen. Wie sie sollen auch wir die Einladung
der 'zwei Männer in weißen Gewändern' annehmen und nicht dastehen und zum Himmel emporschauen; unter der Leitung des Heiligen Geistes müssen wir viel-
mehr überall hingehen und die heilbringende Botschaft vom Tod und von der Auf-
erstehung Christi verkünden.


(P. Benedikt XVI., Predigt bei der Eucharistiefeier am 24. Mai 2009,
in: L'Osservatore Romano 22/2009, 7
)