Joseph Ratzinger, Christi Himmelfahrt, in: Geist
und Leben 40 (1967) 81-85, wieder
abgedruckt in: DERS., Dogma und Verkündigung,München - Freiburg
1973, 361-366:
Von den Hochfesten des Kirchenjahrs liegt vielleicht
keines dem modernen Bewußtsein so fern wie das Fest der Himmelfahrt
Christi: Zu eng scheint es verknüpft mit einem mythischen Weltbild,
das wir längst nicht mehr zu teilen vermögen. So drängt sich
heute auch vielen katholischen Christen die Frage auf, die vor 25 Jahren
Bultmann in seinem berühmt gewordenen Aufsatz "Neues Testament und Mythologie"
formuliert hat: "Welchen Sinn hat es, heute zu bekennen: ‚niedergefahren
zur Hölle' oder 'aufgefahren gen Himmel', wenn der Bekennende das diesen
Formulierungen zugrundeliegende Weltbild von den drei Stockwerken nicht teilt?"
Wir werden es freilich für einigermaßen vereinfacht halten, wenn
der berühmte Exeget wenig später fortfährt: "Kein erwachsener
Mensch stellt sich Gott als ein oben im Himmel vorhandenes Wesen vor; ja,
den 'Himmel' im alten Sinne gibt es für uns gar nicht mehr. Und ebensowenig
gibt es die Hölle, die mythische Unterwelt unterhalb des Bodens, auf
dem unsere Füße stehen. Erledigt sind damit die Geschichten von
der Himmel- und Höllenfahrt Christi ..." Was aber ist hier eigentlich
vereinfacht? Und was ist der bleibende Gehalt unseres Bekenntnisses zur Himmelfahrt
des Herrn in einer Zeit, in der die Vorstellung eines lokalen Himmels oberhalb
der Wolken in der Tat ein für allemal erledigt ist?
...
Die Liturgie knüpft mit ihrem Wort vom Aufsteigen, von der Erhöhung
vor allem an die Sprache des Johannesevangeliums an, das den Vorgang des
heutigen Festes unter diesem Begriff geschildert und ihn wohl am tiefsten
gedeutet hat. Darauf werden wir gleich nochmal zurückkommen müssen;
einstweilen soll uns schon der Hinweis wichtig sein, daß wir die Antwort
auf die Frage nach dem Sinn von "Himmelfahrt" nicht aus einem einzelnen Text,
ja, nicht einmal aus einem einzelnen Buch des Neuen Testaments entnehmen,
sondern nur im Hinhören auf das Ganze finden können. Da es um einen
für unser Vorstellen völlig unanschaulichen Sachverhalt geht, kann
er nicht in einer einzigen Formel ausgesagt, sondern nur von vielen Seiten
her andeutend umkreist und so auf unser Verstehen hin geöffnet werden.
ja, wir müssen sogar hinter das Neue Testament zurückgreifen und
feststellen, daß das Wort "erhöhen" alttestamentlichen Ursprungs
ist und dort die Einsetzung ins Königtum meint. Damit stehen wir aber
ganz unvermittelt schon vor einer ersten Antwort auf unsere Frage nach dem
Sinn von "Himmelfahrt": Als Fest der Erhöhung Christi bedeutet sie die
Einsetzung des gekreuzigten Menschen Jesus ins Königtum Gottes über
die Welt.
In der Apostelgeschichte, der die Lesung der heutigen Messe entnommen ist,
scheint freilich das Ganze doch sehr anschaulich und äußerlich
aufgefaßt zu sein. Sieht man aber näher zu, so wird deutlich,
daß auch hier die Dinge in eine viel größere Tiefe reichen
als sich dem ersten Blick erschließt. Der Vorgang der "Himmelfahrt"
wird im Passiv dargestellt: Er wurde "emporgehoben" heißt es zuerst
(V.9), "aufgenommen" etwas später (V. 11). Das Geschehen ist also als
eine Machttat Gottes geschildert, der Jesus in den Raum seiner Nähe
einbezieht, nicht als eine Flugreise nach oben. Das Bild der Wolke, das in
diese Richtung zu weisen scheint, ist in Wahrheit ein uraltes Bild alttestamtentlicher
Kulttheologie: Zeichen der Verborgenheit Gottes, der gerade in seiner Verborgenheit
der Nahe und der Mächtige ist, der allzeit über uns und dennoch
immerfort in unserer Mitte ist, der sich all unserem Greifen- und Verfügenwollen
entzieht und eben darin über uns alle verfügt. Durch dieses Bild
der Wolke wird die Erzählung von der Himmelfahrt eingefügt in die
ganze Geschichte Gottes mit Israel, beginnend mit der Wolke am Sinai und
über dem Bundeszelt in der Wüste bis zu der lichten Wolke, die
auf dem Berg der Verklärung die Nähe Gottes verkündete.
...
Was also heißt Christi Himmelfahrt? Es bedeutet den Glauben daran,
daß in Christus der Mensch, das Wesen Mensch, an dem wir alle Anteil
haben, auf eine unerhörte und neue Art eingetreten ist ins Innere Gottes.
Es bedeutet, daß der Mensch in Gott Raum findet auf immer. Der Himmel
ist nicht ein Ort über den Sternen, er ist etwas viel Kühneres
und Größeres: das Platzhaben des Menschen in Gott, das in der
Durchdringung von Menschheit und Gottheit im gekreuzigten und erhöhten
Menschen Jesus seinen Grund hat. Christus, der Mensch, der in Gott ist, ewig
eins mit Gott, ist zugleich das immerwährende Offenstehen Gottes für
den Menschen. Er selbst ist so das, was wir "Himmel" heißen, denn der
Himmel ist kein Raum, sondern eine Person, die Person dessen, in dem Gott
und Mensch für immer trennungslos eins sind. Und wir gehen in dem Maß
auf den Himmel zu, ja, in den Himmel ein, in dem wir zugehen auf Jesus Christus
und eintreten in ihn. Insofern kann "Himmelfahrt" ein Vorgang mitten in unserem
Alltag werden.
Nur aus diesen Zusammenhängen heraus ist es zu begreifen, wenn Lukas
uns am Ende seines Evangeliums berichtet, die Jünger seien von der Himmelfahrt
nach Jerusalem "mit großer Freude" heimgekehrt (24,52). Sie verstanden
das Geschehene nicht als einen Abschied; in diesem Fall hätten sie kaum
"voll Freude" sein können. Für sie war Himmelfahrt und Auferstehung
ein und dasselbe Ereignis: die Gewißheit, daß der Gekreuzigte
lebte, daß der Tod besiegt war, der den Menschen von Gott, dem Leben,
abschneidet und daß die Tore ewigen Lebens für immer geöffnet
waren. So bedeutete "Himmelfahrt" für sie nicht das, als was wir sie
gewöhnlich mißverstehen: die einstweilige Abwesenheit Christi
von der Welt, sie bedeutete ihnen vielmehr die neue, endgültige und
unaufhebbare Form seiner Anwesenheit durch die Teilnahme an Gottes königlicher
Macht. ... [Die Jünger] sollten nicht in die Zukunft starren, nicht
grübelnd warten auf die Stunde seiner Wiederkunft. Nein, sie sollten
erkennen, daß er gar nicht aufhörte, immerfort anwesend zu sein,
ja, durch sie immer mehr anwesend werden wollte: Die Gabe des Geistes und
die Aufgabe des Zeugnisses, der Verkündigung, der Mission sind die Weise,
wie Christus jetzt schon anwesend ist. Die weltumspannende Verkündigung,
so dürfen wir von hier aus sagen, ist in der Zeit zwischen Auferstehung
und Wiederkunft des Herrn die Ausdrucksform des weltumspannenden Königtums
Jesu Christi, der in der Niedrigkeitsgestalt des Wortes seine Herrschaft
ausübt.
Christus übt seine Macht durch die Ohnmacht des Wortes aus, durch das
er die Menschen zum Glauben ruft: Dieser Sachverhalt erinnert noch einmal
an das Bild der Wolke, in dem sich Verborgenheit und Nähe des Herrn
eigentümlich durchdringen. Der Evangelist Johannes hat dieses Ineinander
noch umfassender dargestellt durch den neuen Sinn, mit dem er das alttestamentliche
Wort "Erhöhung" füllte: Dieses Wort, das bis dahin nur den Gedanken
der Einsetzung in die Königswürde ausdrückte, bedeutet bei
ihm zugleich den Vorgang der Kreuzigung, bei dem Christus über die Erde
"erhöht" wurde. So fallen für Johannes das Geheimnis von Karfreitag,
von Ostern und von Christi Himmelfahrt ineinander: In geheimnisvoller Doppelsinnigkeit
erscheint das Kreuz als der Königsthron, von dem aus Christus seine
Herrschaft ausübt und die Menschheit an sich zieht, in seine weit geöffneten
Arme hinein (vgl. Joh 3,4; 8,28; 12,32 f). Der Königsthron Christi ist
das Kreuz, seine Erhöhung ist das, was dem Außenstehenden als
äußerste Schmach und Erniedrigung erscheint - in dieser letzten
Ausdeutung des Geschehens der "Himmelfahrt", die das Neue Testament gibt,
liegt zugleich der ganze Anspruch des Glaubens an den Menschen wie seine
Verheißung offen vor Augen. Denn der Christus, der in der völligen
Selbstpreisgabe, im radikalen sich-Weggeben am Kreuze zum König der
Welt wird, dessen Umarmung weit genug ist, um alle zu umfassen, dieser Christus
ist das Gegenbild des ersten Adam, d. h. unser aller - des ersten Adam, der
in eigenmächtiger Anmaßung sich selbst erhöhen, sich selbst
vergotten wollte und darüber sich selbst zerstörte und verlor.
So ist die Erhöhung Christi, die in dieser Weltenzeit nur unter dem
Zeichen des Kreuzes auftritt, Ausdruck für das Gesetz des Weizenkorns,
das uns allen gilt: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und
stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Frucht (Joh
12,24).
Wenn damit über dem Fest der Erhöhung Christi, das wir heute begehen,
ein großer Ernst steht, so bleibt sein Grundzug die Hoffnung, die Freude.
Gott hat Raum für den Menschen -sollte es uns über dieser Botschaft
nicht wie den Jüngern ergehen, die "voll Freude" vom Ölberg nach
Hause gingen? Allzu viele versuchen uns heute einzureden, daß es doch
sinnlos sei, sich vorzustellen, daß Gott, der weltumspannende an den
Menschen denken, sich gar um ihn kümmern könne. Wie klein muß
ihr Gottesbild sein, daß sie ihn nach unserem Muster denken, die wir
auswählen müssen, weil wir nicht alles zugleich überschauen
können. Wieviel mehr hat jener Unbekannte von Gott begriffen, dem wir
den herrlichen Satz verdanken, den Hölderlin als Motto über seinen
Hyperion schrieb: "Vorn Allergrößten nicht umfaßt werden,
das Allerkleinste noch umfassen - das ist göttlich." In Gott ist Raum
für uns - das zuversichtliche Wort, in das der afrikanische Kirchenvater
Tertullian vor mehr als anderthalb Jahrtausenden den Sinn von Christi Himmelfahrt
zusammenfaßte, ist heute so wenig "erledigt" wie damals: "Seid nur
getrost, Fleisch und Blut: Ihr habt Besitz ergriffen vom Himmel und vom Reiche
Gottes in Christus! " (De car Chr 17).