H.F. DAUB, Die Stellvertretung
Jesu Christi. Ein Aspekt des
Gott-Mensch-Verhältnisses bei Dietrich Bonhoeffer, Berlin 2006;
Dieses umfangreiche Werk von über sechshundert
Seiten wurde im Jahr 2004 als Doktor-Dissertation an der
Universität Mainz angenommen. Im Vorwort schreibt der Autor,
dass er bereits in Schülerzeiten an Hand ei-
nes Briefes von Dietrich Bonhoeffer mit dessen Erlösungslehre konfrontiert
worden sei und dass sich seitdem
bei ihm der Wunsch gehalten und gefestigt habe, sich mit dieser Thematik
intensiv auseinanderzusetzen. Die
Einleitung macht sodann darauf aufmerksam, dass die Stellvertretungskategorie
in vielen - auch profanen -
Kontexten "in großer Spannweite" (24) anzutreffen ist: "dabei
zeigt sich deren Bedeutung für sehr unterschied-
liche Erfahrungsbereiche" (24). Der Autor benennt eine Reihe von
"Stellvertretungsperspektiven" (wer wird
vertreten und von wem?) sowie von "Strukturelementen" des Stellvertretungsbegriffs
(was gehört alles dazu,
damit von Stellvertretung gesprochen werden kann?). Dazu schildert er,
zu welchen Ergebnissen andere Au-
toren und Autorinnen hinsichtlich der Stellvertretungsfrage bei Bonhoeffer
bereits gekommen sind, und be-
nennt als vorrangiges Ziel seiner Auseinandersetzung mit der Thematik im
vorliegenden Band "die Darstel-
lung von Bonhoeffers Stellvertretungsverständnis in dessen einzelnen
Schriften" (44). Als Leithypothese gilt
dabei: "Die Stellvertretungstheologie stellt gleichsam die Drehscheibe
dar, auf der Bonhoeffers Gedanken ent-
scheidend geformt werden" (45).
Das erste und umfangreichste Kapitel
behandelt den Stellvertretungsgedanken in Bonhoeffers Frühschrif-
ten. In der Schrift "Sanctorum Communio" (1930), Bonhoeffers
Doktor-Dissertation von 1927, "korrelieren"
die Begriffe Person und Gemeinschaft "mit einer bestimmten Konzeption
von Stellvertretung. Maßgeblich für
Bonhoeffer in der Stellvertretungstheologie ist die soteriologische
Position Luthers, wie er sie von Reinhold
Seeberg und Karl Holl kennengelernt hat" (50f). Unter der
Perspektive des Christseins wird für Bonhoeffer
das allgemein geistige Person-Sein des Menschen (die Person ist Zentrum
intellektueller und voluntativer Ak-
te, hat ihren Einheitspunkt im Selbstbewusstsein und ist in das Netz der
Sozialität eingebunden/53) ergänzt
durch die Herausforderung der Ich-Du-Beziehung. Der andere, mir als Du
gegenübertretende, Mensch ist "so
gesehen das Medium für das von Gott erwirkte Du, das mich in Anspruch
nimmt" (56). Mit dem Begriff Stell-
vertretung - in seiner ethischen Bedeutung - ist nun für Bonhoeffer
"das freiwillige Aufsichnehmen eines Übels
an Stelle eines anderen gemeint" (70). Dem gegenüber stellt
B. Christi "Stellvertretung für die gesamte Person",
die den Menschen verwandelt und vor Gott rechtfertigt. Auch gegenüber
einer menschlichen Gemeinschaft, die
nach B. "als Kollektivperson aufgefaßt werden" kann (89),
ist Stellvertretung im Sinne der Übernahme eines auf
ihr lastenden Übels möglich. Die Stellvertretung Christi gegenüber
der gesamten Menschheit "ist die von Gott ge-
setzte, der Liebe Gottes deshalb entsprechende Vollzugsform innerhalb
der Menschheit, weil sie zutiefst einem
Wesenszug der Liebe entspricht, das eigene Selbst nicht in sich selbst
zu suchen" (104f). "Innerster Kern dieser
Stellvertretung ist (so) Gottes versöhnende Liebe, sie ist eine
Tat Gottes in Christus" (136). Christus trägt und
realisiert eine neue Menschheit, die durch Christi Tat umgebildet wird.
Die Einsamkeit der Menschen, in die
sie die Sünde geführt hatte, wird dadurch in einer neuen Gemeinschaft
aufgehoben. Die Aktualisierung der neu-
en Gemeinschaft geschieht in der durch den Geist geleiteten Kirche, in
der neue Stellvertretung füreinander mög-
lich wird.
In Bonhoeffers Habilitationsschrift "Akt und
Sein" (1930) findet sich der Terminus "Stellvertretung" zwar
kein
einziges Mal, gleichwohl ist von der beschriebenen Sache - nach Karl Heinz
Menke - substantiell die Rede (157).
Die Vermeidung des Terminus "Stellvertretung" steht nach D. "in
Zusammenhang mit dem Auseinanderdividie-
ren von menschlicher Wirklichkeit und Rechtfertigungsgnade" durch
Karl Barth (297). Denn, so Daub: "Jesus als
Mensch müßte, würde er als Stellvertreter gesehen, in
der Wirklichkeit des Vertretenen, aber auch in der Wirk-
lichkeit des Zieles der Stellvertretung, in der Wirklichkeit des Heils,
in der Wirklichkeit Gottes stehen" (298). Da
aber Bonhoeffer in "Akt und Sein" sich - bei aller kritischer Distanz
zu Barth - von dessen Etablierung einer un-
überbrückbaren ontologischen Differenz zwischen der Person Christi
und der menschlichen Existenz leiten lasse,
sei es nur konsequent, dass eine Stellvertretung des Menschen durch Jesus
Christus nicht ausdrücklich benannt
werde.
Das zweite Kapitel steht unter der Überschrift
"Nachfolge in einem von der Dozentur bestimmten Leben" und
behandelt die Perspektiven auf den Stellvertretungsgedanken, wie sie aus
den Zeugnissen über die Dozenten-Tä-
tigkeit B.- zwischen 1931 und 1939 - herauszulesen sind. In der Vorlesung
"Das Wesen der Kirche" expliziert B.
Jesus Christus als "Stellvertreter der Menschheit" bzw. sein Leiden
und Sterben als "stellvertretendes Handeln für
die neue Menschheit" (307f). Dabei handelt es sich nicht um eine
Stellvertretung im ethischen Sinn, da der An-
dere nie an meiner Stelle vor dem ethischen Gebot stehen kann. Vielmehr
ist die Stellvertretung Christi ein stell-
vertretendes "Personenopfer", das sich "in der Inkarnation, in
der Erfüllung des Gesetzes, am Kreuz und in der
Auferstehung" vollzieht (310). In der Vorlesung "Schöpfung
und Fall" (1933) verbindet B. den Stellvertretungs-
gedanken mit dem Freiheitsbegriff. Christus, so B., ist für die Menschen:
1. Offenbarer von Freiheit, sowie 2.
Stellvertreter zugunsten von Freiheit (328). In der Christologie-Vorlesung
des Sommersemesters 1933 wird der
Terminus "Stellvertretung" zum Zentralbegriff. Christus, so B.,
steht dort, wo die neue Menschheit stehen soll,
er wird zum "Gegenlogos" (345), der das "Gericht über den
menschlichen Logos" aufrichtet (347).
In seinem Buch "Nachfolge" (1937), das
die konkrete Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur wiederspie-
gelt, wird der Gedanke der Stellvertretung Jesu Christi als Grund der Nachfolge
bedacht. Das Leiden der Got-
tesferne werde von Jesus in Freiheit übernommen und dadurch das Leiden
überwunden. Die hierdurch gesche-
hene Versöhnung zwischen Gott und der Welt solle vom nachfolgenden
Christen weitergeführt werden: "wie
es schon Jesus auch in seiner konkreten Kreuzessituation getan hat,
so soll nun der Christ den ihm entgegentre-
tenden bösen Menschen mit 'Gutem' begegnen" (404). Auch die
Liebe des nachfolgenden Jüngers Jesu kann da-
mit stellvertretend sein. Dies alles entwickelt B. auch im Gespräch
mit Gandhis "Satyagraha" (412).
Das dritte Kapitel ("Stellvertretung im
Horizont der Verschwörung") und die hierin besprochenen Texteinhei-
ten zu einem später geplanten Werk "Ethik" stehen im
Kontext des Widerstands gegen das Hitler-Regime. Hier
bezeichnet er die Stellvertretung als "etwas der Existenz Jesu keinesfalls
zufällig Anhaftendes, Kontingentes, Un-
maßgebliches" (433). Perfekt- und Präsenzform wechseln
einander ab; das heißt: "Jesus Christus vollzieht aktiv
in der Gegenwart die Stellvertretung. In der realen Stellvertretung
ist er der Verantwortliche schlechthin" (434).
Im einzelnen werden als Dimensionen der Stellvertretung aufgeführt:
"1. die geschichtlich vollzogene Stellvertre-
tung; 2. die durch alle Zeiten hindurch jeweils für einen einzelnen
bzw. für mehrere Menschen vollzogene Stell-
vertretung im Sinne einer je neuen Begegnung; 3. die durch alle Zeiten
hindurch jeweils für einen einzelnen bzw.
für mehrere Menschen vollzogene Stellvertretung im Sinne einer
Vermittlung von Momenten der irdischen Exis-
tenz Jesu von Nazareth" (435). Christus stellt damit den Menschen
auch von heute unter seinen Anspruch und
fordert von ihm den Einsatz seines Lebens. Auch die unter dem Titel "Widerstand
und Ergebung" gesammel-
ten Texte einer Haftkorrespondenz stellen den stellvertretend für
die Menschen leidenden Jesus Christus in den
Mittelpunkt. Gottes Leiden in, an und mit der Welt in Jesus Christus wird
hier ein zentrales Thema, in das der
Stellvertretungsgedanke eingebunden ist und zu dessen Erläuterung
auch Jes 53 ausführlich interpretiert wird.
Im vierten, abschließenden und resümierenden,
Kapitel ("Ergebnis und Perspektiven") "sollen nun
zum Thema
Stellvertretung die wichtigsten Aspekte zusammengefaßt und das
Unverwechselbare von Bonhoeffers Stellvertre-
tungstheologie ins Zentrum gerückt werden" (569). Als besondere
Leistung Bonhoeffers wird gewürdigt, dass er
"die Stellvertretungskategorie aus einer Randposition innerhalb der protestantischen
Theologie herausgeholt hat"
(569). Hierbei gehe Bonhoeffer Barth zeitlich voraus und nicht umgekehrt.
Die Verwendung der Stellvertretungs-
kategorie sei überdies Ausdruck dafür, dass B. sich mit seiner
Theologie "zur konkreten menschlichen Wirklich-
keit gewendet" habe, in die alle Menschen einbezogen seien (571).
Gemeinschaft und Individuum würden mit die-
ser Kategorie in ihrem Heilsbedürfnis aufeinander bezogen, das Dasein-für-andere
Jesu Christi in angemessener
Weise ausgedrückt. Kritisch rückzufragen sei allerdings, ob B.
Aufspaltung der Welt in einen mit Gott unversöhn-
ten und einen mit Gott versöhnten Bezirk theologisch - insbesondere
der dogmatischen Formel von Chalcedon -
angemessen sei (581). Problematisch sei überdies, dass B. "Freiheit
und Rechtfertigung auseinanderreißt" bzw.
"wie Luther eine Konkurrenz zwischen Gottes Gnadenhandeln und menschlicher
Mitbeteiligung am Rechtferti-
gungsgeschehen durch aktiven freien Mitvollzug" sieht (583) und dass
er den biblisch-theologischen Gehalt des
Sühnekontextes - gemeint ist "der erlittene Schmerz, der... unter
der eigenen begangenen Lieblosigkeit und Treu-
losigkeit, unter dem eigenen Nein leidet" (589) - nicht genügend
einbeziehe. Schließlich werde auch der Gedanke
der Teilhabe des erlösten Menschen am Sein Gottes weniger tief bedacht
als etwa bei Thomas von Aquin (591).
Darauf wie Stellvertretung - auch aus der Sicht der Theodramatik Hans Urs
von Balthasars - zu verstehen sei,
wirft der Autor abschließend noch ein Schlaglicht.
Im Ganzen bietet diese Arbeit eine höchst intensive
Auseinandersetzung mit dem Stellvertretungsgedanken bei
Bonhoeffer und - in Ansätzen - auch seinem theologischen Umfeld. Bonhoeffers
Theologie wird stellenweise auch
mit seiner Lebenssituation korreliert und dadurch in ihrem Inhalt noch verständlicher
gemacht. Zwar werden an ei-
nigen Stellen - etwa in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen
Autoren Bonhoeffers - Längen in der Darstel-
lung nicht ganz vermieden, doch binden kluge Zusammenfassungen den Argumentationsstrang
wieder zusammen.
Ein ausführliches Abkürzungs- und vor allem Literaturverzeichnis
runden das Werk ab.
Herbert Frohnhofen, 11. Dezember 2006