Theologie-Systematisch
Christologie
§ 10. Jesus: Wahrer Mensch und Gottes Sohn/Wort
Texte-Inkarnation

"... wird es m.E.... unausweichlich, in der alten Streitfrage Position zu beziehen, ob die
Menschwerdung Gottes nur wegen der Erlösung von der Sünde notwendig war (das war
die Auffassung der thomistischen Richtung) oder ob (so die Meinung der Scotisten) Got-
tes Sohn auch dann Mensch geworden wäre, wenn die Sünde der Menschen nicht ge-
schehen wäre... Für Anselm von Canterbury war die Menschwerdung Gottes ja deshalb
notwendig, weil einzig der Gottmensch die unendlich wertvolle Sühneleistung erbringen
konnte, wie sie die Sünde... verlangte... Warum also, so die Frage, hat Gott diesen Weg
zu unserem Heile gewählt: die Menschwerdung seines Sohnes? Weil, so meine... These,
weil Gottes Liebe, wenn sie uns Menschen wirklich erreichen und dabei ihre unbeding-
te Entschiedenheit für uns gewiß werden sollte, uns auch auf menschliche Weise begeg-
nen und nahekommen mußte... Warum also wurde Gott Mensch? Weil Gottes unbedingt
für die Menschen entschiedene Liebe bei ihnen sein wollte, aber nur auf diese mensch-
lich bestimmte Weise bei ihnen ankommen konnte. Und genau in diese Richtung zielte
auch schon die Antwort der Scotisten. Gott wollte freie Geschöpfe als Teilhaber seiner
Liebe, formulierte Duns Scotus; dies ist der tiefste Grund nicht nur für die Schöpfung,
sondern der primäre Grund auch der Inkarnation... Übrigens kann ich mich in dieser
Sache auch auf die Theologie Karl Rahners berufen, die eine eindeutig scotistische
Grundrichtung aufweist...

Theologische Ansätze..., die den Sinn von Gottes Heils- und Gnadenhandeln auf die
Erlösung von der Sünde beschränken, kommen häufig über eine bloße Restitutions-
theologie nicht hinaus. Oder aber, so in der Neuzeit, sie ordnen dieses Handeln in
einen gleichsam evolutiven Entwicklungsprozeß ein, in dem nur hervortritt und rea-
lisiert wird, was potentiell schon im Menschen vorhanden war. Wenn nun aber durch
Gottes Gnade in Jesus Christus nur verwirklicht oder wiederhergestellt wird, was durch
die Sünde zwar gestört war oder verlorenging, aber vorher (nämlich im Urstand vor
dem Sündenfall) schon einmal gegeben oder doch wenigstens - so die neuzeitliche Va-
riante - im Wesen des Menschen schon angelegt war, dann muß die Sünde theologisch
möglichst stark gemacht werden, weil sonst ja die wesentliche Bedeutung Jesu Christi
für die Vermittlung des Heils nicht mehr einsichtig wäre."

(Th. Pröpper, Theologische Anthropologie II, Freiburg 2. Aufl. 2012, 673-676)