Nathalie Kruppa/Jürgen
Wilke (Hgg.), Kloster und Bildung im Mittelalter (Veröffentlichungen
des Max-Planck-Instituts für Geschichte
218/Studien zur Germania Sacra 28) Göttingen 2006;
Dieses imposante Buch mit über 600 Seiten - so
informiert das Vorwort der Herausgeber - ist der Dokumen-
tationsband einer gemeinsamen Tagung des Klosters Ebstorf
und des Max-Planck-Instituts
für Geschichte, Germania Sacra, die im März
2004 im Kloster Ebstorf stattfand und zwei Themenkreise miteinander verbin-
den
sollte: zum einen die sogenannte "Ebstorfer Weltkarte, das größte
und farbenprächtigste überlieferte,
wenn auch im Original 1943 verbrannte, mittelalterliche Weltbild", (11) welche
dem Buch in einem schö-
nen Abdruck beigefügt ist. Diese Weltkarte ist eine der "zentralen Bildchiffren
des Mittelalters... die in zahl-
reichen populären Publikation(en) zur mittelalterlichen Geschichte erscheint, gleichsam
als optische Verge-
genwärtigung des Mythos einer mittelalterlichen Weltsicht der Erde als einer Scheibe und
damit wiederum
zur Bestätigung der eigenen Fortschrittlichkeit" (11). Der zweite Themenkreis "Kloster
und Bildung" - so
die Herausgeber - "sollte gleichsam den übergeordneten Rahmen für die Ebstorfer Karte
bieten und sich
einer Antwort auf die Frage annähern, wie die Karte aus der norddeutschen klösterlichen
Bildungsland-
schaft hervorgegangen sein kann" (12). In einem weitgespannten Bogen soll deshalb "die gesamte Ge-
schichte
der mittelalterlichen monastischen Kultur und der dortigen Wissensbewahrung und -vermittlung
anschaulich
vor Augen" geführt werden (12). Es ist ein sehr hoher Anspruch also, der hier im Vorwort von
den Herausgebern
aufgerichtet wird.
Eingeteilt ist das Buch in fünf sehr unterschiedlich
umfangreiche Abschnitte, in denen nacheinander "Klos-
ter und Bildung in Norddeutschland", "Bildung im Bild", (zur Bedeutung
von Bildern im Mittelalter), "Ger-
vasius
von Tilbury" (der mutmaßliche Schöpfer der Ebstorfer Weltkarte),
die Weltkarte selbst sowie schließ-
lich "Kloster und Bildung in der Reformation und heute" behandelt
werden. Eingeleitet wird das Buch aber
durch zwei Beiträge über die monastische Kultur und die
Kunst des Wissens im Mittelalter im allgemei-
nen (MARTIN KINTZINGER) sowie den Blick in eine damalige Klosterschule
von innen (THOMAS
FRENZ).
Bildung und Wissenschaft seien "mittlerweile unter
die Räuber gefallen und zum Spielfeld beliebiger Re-
formparolen geworden" (15), konstatiert Kintzinger einleitend und spricht
damit auch dem Rezensenten
aus der Seele (vgl. H. Frohnhofen, Bildung im Niemandsland.
Die verlorene Einheit in der Wahrheit (pdf)).
Kloster und Mittelalter stünden dabei oft für Intoleranz und geistige
Beschränktheit; ob das wohl angemes-
sen sei? Nun, eher das Gegenteil ist richtig, führt K. an Hand vieler Fakten und
Beispiele vor. Denn insbe-
sondere die "Tradierung und Vermittlung von Wissen gehörten von Beginn an zum
benediktinischen Mönch-
tum dazu" (22). Deshalb gilt: "Das benediktinische Mönchtum wurde im europäischen
Mittelalter zum frü- hesten Initiator und blieb im gesamten Mittelalter einer der maßgeblichen Träger kulturellen
Wissens" (23).
Auch die Erinnerungskultur z.B., die heute so hoch geschätzt wird, "geht auf eine Memorialpraxis
der frü-
hen mittelalterlichen Klöster zurück... Man erinnerte sich derer, die zum eigenen Konvent gehörten,
und
jener, die zu anderen, verbrüderten Konventen zählten" (33). Zusammenfassend gilt für K.:
"Der Wissens-
horizont der monastischen Kultur war sehr weit - und er umfaßte die Gesamtheit aller nützlichen Kenntnis-
se
und Fertigkeiten... Ihr Anspruch umfassender 'Menschenbildung' und 'anwendungsorientierter Aus-
bildung' lassen die Klosterbildung
geradezu modern erscheinen" (36). Thomas Frenz' Einblick in die mit-
telalterliche
Klosterschule ist kurz, aber informativ. So wird z.B. deutlich, dass das Lesenlernen an Hand
von lateinischen Texten (Glaubensbekenntnis,
Vaterunser, Psalter) geschah, von Texten also, die die jun-
gen Schüler garnicht verstehen
konnten, dann aber im Stundengebet des Klosters immer wieder hörten.
Die Rute galt als wichtigstes Utensil
des Lehrers, um die Disziplin zu bewahren; aber es gab auch Beloh-
nungen, etwa in Form von Gebäck.
Erste Klosterschulen - so erläutert STEFAN
PÄTZOLD - sind erst für das 9. Jahrhundert auf dem europä-
ischen Festland nachweisbar. Hier geschah eine Unterweisung im Lesen ganz
allgemein sowie eine Hinfüh-
rung zur geistlichen Lektüre. Die für den Gottesdienst notwendigen
Psalmen, Cantica und Hymnen wurden
erlernt sowie die jweils beachtete Regel studiert. Erst hiernach ging man zu Erläuterungen
der Bibel und
dem Lesen geistlicher Texte über, da dies Grundkenntnisse des Lateinischen voraussetzte.
Das Schreiben
lernten danach nur jene Ordensbrüder, die für die Herstellung von Büchern,
der Ausfertigung von Urkun-
den oder Verwaltungsaufgaben vorgesehen waren. Für Stifts- und Domschulen war es
hingegen seit dem
8. Jahrhundert die vordringliche Aufgabe, den Klerikernachwuchs für die Diözesen auszubilden.
Prakti-
sches Handlungswissen für zukünftige Kanoniker und Weltgeistliche stand deshalb hier eher im Vorder-
grund
als die Anleitung zur geistlichen Meditation. Die im 12. Jahrhundert dann aufbrechende neue scho-
lastische Lehr-
und Verfahrensform der Quaestio und Disputatio drang eher in die Stifts- und Dom- als in
die Klosterschulen.
Franziskaner und Dominikaner bauten als Voraussetzung für ihre Predigt- und Seelsor-
getätigkeit
europaweit ein hierarchisiertes Bildungswesen auf, das vielfach zur Grundlage der entstehenden
Universitäten
wurde. Vom 13. Jahrhundert an boten Kloster- und Domschulen dann oft nurmehr die elemen-
tare Bildung an, während
den Universitäten die Freien Künste, Theologie, Recht und Medizin vorbehalten
blieb.
NATHALIE KRUPPA beschreibt die Bildung von Adligen
im nord- und mitteldeutschen Raum vom
12. bis 14. Jahrhundert. Wichtig ist zunächst, "daß für
den adligen Laien Bildung im 12. und auch noch
im 13. Jahrhundert nicht gleichzusetzen war mit einer literarischen Bildung,
d.h. mit der Fähigkeit, lesen
und schreiben zu können" (156). Während der lateinisch gebildete
Mensch, der "litteratus", bis ins 12. Jahr-
hundert in der Regel mit dem Kleriker gleichgesetzt wurde, galt der Laie, vom Bauern bis
zum Adligen, als
"illitteratus", weil er des Lateinischen nicht mächtig war. Stattdessen bestand die Bildung
des männlichen
jungen Adligen in Reiten, Ringen, Fechten, Jagen, aber auch Anleitungen zur Selbstdisziplin
und die Ver-
mittlung von Tugenden (Maßhalten, Milde, Freigebigkeit usw.). Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts
nahm
die Schreibfähigkeit des männlichen Adels in Bezug auf die Volkssprachen stark zu, während dies den
ad-
ligen Frauen wahrscheinlich schon früher in größerem Maße zugestanden wurde. Im abschließenden
Bei-
trag beschreibt ANDREAS HESSE die Bedeutung von Klöstern für die Bildung im heutigen Kontext.
Mit großem Recht betont er, "dass Bildung über das Anreichern von Informationen hinaus ganz wesentlich
daraus erwächst,
dass gewonnene Informationen zueinander in Beziehung gesetzt werden, um dann durch
eine bewertende
Verarbeitung in Wissen umgewandelt zu werden - und zwar in ein tieferes Wissen, das es
dem Individuum ermöglicht,
den ihm angemessenen Lebensentwurf zu finden" (575). Klöster versteht er
als "Ruhe-
und Schutzzonen", in denen sich - wie es in der Benediktregel heißt - das Herz weitet und der
Kopf frei wird, mithin also
ein entsprechender atmosphärischer Rahmen, ein geistig-emotionales Gebor-
genheitsgefühl gewährleistet wird,
in dem solche Bildung sich ereignen kann (576). Recht hat der Autor -
und auch damit, dass genau dieser Aspekt in der Bildungsdiskussion
unserer Tage allzu oft schlichtweg
übersehen wird.
Nun, vieles ließe sich aus diesem großartigen
Buch noch zitieren und verarbeiten. Insbesondere auf die De-
tailarbeit in vielen Beiträgen zu Gervasius von Tilbury und vor allem die
Ebstorfer Weltkarte konnte hier
überhaupt nicht eingegangen werden; dazu auf die 133 - teils farbigen - Abbildungen,
deren Quelle detail-
liert nachgewiesen wird. Ein umfangreiches Register steht am Schluss eines Buches, das
wahrlich jedem
zu empfehlen ist, der der monastischen Kultur und Bildung im Mittelalter - zumal am Beispiel
der Ebstor-
fer Weltkarte - intensiv nachgehen möchte.
Herbert Frohnhofen, 1. Mai 2007