Theologie-Systematisch
Theologische Anthropologie
§ 8. Der erlöste und befreite Mensch
Freiheit/historisch - Texte


"Wir stehen offensichtlich vor zwei verschiedenen Begriffen von Willensfreiheit. Augustinus bezieht sich
mit dem Ausdruck liberum arbitrium in aller Regel auf die Freiheit des Willens im Sinne der Ursachen-
losigkeit, jedenfalls bis zu seiner großen gnadentheologischen Wende, nicht jedoch auf die Freiheit des
sittlich guten Menschen, der an der Freiheit Gottes Anteil hat. Abweichend hiervon bezeichnet er in De
civitate Dei die Freiheit des sittlich guten Menschen als das novissimum ('höchste und letzte') liberum ar-
bitrium, wenn auch immer mit diesem Zusatz. Das Nomen 'Freiheit' (libertas) dagegen wird von Anfang
an, d.h. bereits im Frühwerk, und sofern nicht ausnahmsweise die Freiheit von äußerem Zwang gemeint
ist - stets von einem solchen Willen prädiziert, der sich dem göttlichen Willen unterworfen, sich diesem da-
durch angeglichen und insofern seinen Besitzer 'ubesiegbar' gemacht hat."


(B. Goebel, Rectitudo. Wahrheit und Freiheit bei Anselm von Canterbury.
Eine philosophische Untersuchung seines Denkansatzes, Münster 2001, 319f)


"Die Formulierungen des Tridentinums sind mit der Schultradition an einem Freiheitsverständnis
orientiert,
dem die Erfahrung des Sich-distanzieren-Könnens zu Grunde liegt. Der Mensch ist von
der Sünde nicht so
in Besitz genommen, dass er sich zu ihr nicht in eine Entscheidungs-Distanz
bringen könnte. Auch für die
weitere Ausbildung dieses Freiheitsverständnisses in der Neuzeit gilt:
Der Mensch ist darin frei, dass er sich
zu allem verhalten kann, was ihn bestimmt. Freiheit bedeutet
hier die ursprüngliche Selbstbestimmung, in
der der Mensch sich für das ihn Angehende öffnet, sich
zur Stellungnahme entschließt. Unbedingt ist diese
Freiheit nicht darin, dass die in der freien Ent-
scheidung vollzogene Selbstbestimmung das Bestimmtwerden
von Faktoren oder Motiven ausschlös-
se, sondern darin, dass solches Bestimmtwerden von der Stellungnah
me zu ihm umgriffen und (neu)
ausgerichtet wird.

In diesem Sinne ist Freiheit also bedingt, aber eben nicht bedingt von notwendig wirkenden, determi-
nierenden Ursachen. Die freie Entscheidung lässt sich durch Gründe bestimmen. Sie ist weder ein be-
obachtbarer Faktor noch eine sich selbst missverstehende, kausal-determinierte Reaktion in einem ge-
schlossenen Ursache-Wirkungs-Geflecht. Freie Entscheidungen sind nicht 'grundlos' und in diesem
Sinne beliebig. Der Sich-Entscheidende rechnet sich die Entscheidung vielmehr als seine wohlerwo-
gene Stellungnahme zu, und so identifiziert er sich damit. Er bindet sich durch Gründe, deren Bin-
dungskraft er anerkannt, deren Anspruch er sich öffnet. Freiheit hat ihren Ort also im Betroffensein
von und in der Auseinandersetzung mit dem mich Angehenden. Und sie realisiert sich in der zumin-
dest potentiell kommunitär-diskursiven Verantwortung, die darüber Rechenschaft gibt und Rechen-
schaft verlangt, von welchen Gründen man sich zum Handeln bestimmen lässt. Sie hat ihren Ort al-
so in der diskursiv zu bearbeitenden Teilnehmerperspektive und nicht in der deskriptiv rekonstruie-
renden Beobachterperspektive, in der eben nur Erklärungen gefunden, Entscheidungen aber gar
nicht erst lokalisiert werden können.

Die Teilnehmerperspektive wird im (Un-)Freiheitsdenken Augustins und der Reformation gewisser-
maßen radikalisiert vollzogen. Freiheit und Unfreiheit sind nur in der Erfahrung der Beteiligten, ja
der in sie Verstrickten gegeben: in der Erfahrung des Teilnehmens und Teilhabens an den unter-
schiedlichen Herrschaften und Loyalitäten, die den Teilnehmenden oder Teilhabenden die 'Attrak-
tivität' von Beweg-Gründen - die Fähigkeit also, sie zu würdigen - erschließen oder versperren. Es
ist also gerade nicht so, dass hier eine Beobachterperspektive eingenommen würde, in der man dann
auch eine kausale - in gegenwärtiger biowissenschaftlicher Terminologie: neuronale - Determination
feststellen könnte. Es geht hier offensichtlich nicht um Unfreiheit im Sinne einer Bestreitung der Wil-
lensfreiheit unter Berufung auf ein durchgängiges kausales Determiniertsein, sondern um den gebun-
denen Willen. Er ist nicht Herr seines Wollens, nicht Herr seiner Motive; er kann sich nicht aus eige-
nem Vermögen erschließen bzw. dazu entschließen, schätzen zu können, was unbedingt schätzenswert
ist und dann auch rational - mit guten Gründen - gewürdigt zu werden verdient. Diese Tradition sieht
den Ursprung der (Willens-) Freiheit nicht in der Selbst-Ursprünglichkeit eines Sich-Distanzieren- und
deshalb Sich-Verhalten-Könnens zu allem, was mich angeht, sondern im Verhängnis und im Geschenk
einer Nähe, in der mich das Mitfühlenkönnen mit dem Bösen oder mit dem Guten ergreift, in der es
mich in der Knechtschaft des bösen Willens - dem Nicht-fühlen-Könen des Guten - festhält oder zum
Mitfühlen-Können mit dem guten Willen Gottes befreit."

(J. Werbick, Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre, Freiburg/Bg. 2007, 466f)

Der menschliche Wille ist "in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott
sich
darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will... Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will
und geht er,
wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden
Reitern zu laufen
oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinan-
der, ihn zu erlangen und
zu besitzen."

(M. LUTHER, Vom unfreien Willen, Weimarer Ausgabe 18, 635)

Nun, da Gott mein Heil meinem Willen entzogen und in seinen Willen aufgenommen hat und nicht
auf mein
Werk oder Laufen hin, sondern aus seiner Gnade und Barmherzigkeit verheißen hat, mich
zu retten, bin ich
sicher und gewiß, daß er treu ist und mir nicht lügen wird, außerdem mächtig und
gewaltig ist, daß keine Dä
monen und keine Widerwärtigkeiten imstande sein werden, ihn zu überwäl-
tigen oder mich ihm zu entreißen."


(M. LUTHER, De servo arbitrio 18,783,28)