(B. Goebel, Rectitudo. Wahrheit
und Freiheit bei Anselm von Canterbury.
Eine philosophische Untersuchung seines Denkansatzes, Münster 2001,
319f)
"Die Formulierungen
des Tridentinums sind mit der Schultradition an einem Freiheitsverständnis
orientiert, dem die Erfahrung des Sich-distanzieren-Könnens
zu Grunde liegt. Der Mensch ist von
der Sünde nicht so in Besitz genommen, dass er sich zu ihr nicht
in eine Entscheidungs-Distanz
bringen könnte. Auch für die weitere Ausbildung dieses Freiheitsverständnisses
in der Neuzeit gilt:
Der Mensch ist darin frei, dass er sich zu allem verhalten kann, was ihn bestimmt. Freiheit
bedeutet
hier die ursprüngliche Selbstbestimmung, in der der Mensch sich für das ihn Angehende
öffnet, sich
zur Stellungnahme entschließt. Unbedingt ist diese Freiheit nicht darin, dass die in der freien
Ent-
scheidung vollzogene Selbstbestimmung das Bestimmtwerden von Faktoren oder Motiven ausschlös-
se,
sondern darin, dass solches Bestimmtwerden von der Stellungnahme zu ihm umgriffen und (neu)
ausgerichtet wird.
In diesem Sinne ist Freiheit also bedingt, aber eben nicht bedingt von notwendig wirkenden,
determi-
nierenden Ursachen. Die freie Entscheidung lässt
sich durch Gründe bestimmen. Sie ist weder ein be-
obachtbarer Faktor noch eine sich selbst missverstehende,
kausal-determinierte Reaktion in einem ge-
schlossenen Ursache-Wirkungs-Geflecht. Freie Entscheidungen
sind nicht 'grundlos' und in diesem
Sinne beliebig. Der Sich-Entscheidende rechnet sich die Entscheidung
vielmehr als seine wohlerwo-
gene Stellungnahme zu, und so identifiziert er sich damit. Er bindet sich
durch Gründe, deren Bin-
dungskraft er anerkannt, deren Anspruch er sich öffnet. Freiheit hat ihren Ort
also im Betroffensein
von und in der Auseinandersetzung mit dem mich Angehenden. Und sie realisiert sich in der zumin-
dest
potentiell kommunitär-diskursiven Verantwortung, die darüber Rechenschaft gibt und Rechen-
schaft
verlangt, von welchen Gründen man sich zum Handeln bestimmen lässt. Sie hat ihren Ort al-
so in der
diskursiv zu bearbeitenden Teilnehmerperspektive und nicht in der deskriptiv rekonstruie-
renden Beobachterperspektive,
in der eben nur Erklärungen gefunden, Entscheidungen aber gar
nicht erst lokalisiert werden können.
Die Teilnehmerperspektive
wird im (Un-)Freiheitsdenken Augustins und der Reformation gewisser-
maßen
radikalisiert vollzogen. Freiheit und Unfreiheit
sind nur in der Erfahrung der Beteiligten, ja
der in sie Verstrickten gegeben: in der Erfahrung des Teilnehmens
und Teilhabens an den unter-
schiedlichen Herrschaften und Loyalitäten, die den Teilnehmenden
oder Teilhabenden die 'Attrak-
tivität' von Beweg-Gründen - die Fähigkeit also, sie zu würdigen -
erschließen oder versperren. Es
ist also gerade nicht so, dass hier
eine Beobachterperspektive eingenommen würde,
in der man dann
auch eine kausale - in gegenwärtiger biowissenschaftlicher Terminologie: neuronale - Determination
feststellen könnte. Es geht hier offensichtlich nicht um Unfreiheit im Sinne einer Bestreitung der
Wil-
lensfreiheit unter Berufung auf ein durchgängiges kausales Determiniertsein, sondern um den gebun-
denen
Willen. Er ist nicht Herr seines Wollens, nicht Herr seiner Motive; er kann sich nicht aus eige-
nem Vermögen
erschließen bzw. dazu entschließen, schätzen zu können, was unbedingt schätzenswert
ist und
dann auch rational - mit guten Gründen - gewürdigt zu werden verdient. Diese Tradition sieht
den Ursprung
der (Willens-) Freiheit nicht in der Selbst-Ursprünglichkeit eines Sich-Distanzieren- und
deshalb Sich-Verhalten-Könnens
zu allem, was mich angeht, sondern im Verhängnis und im Geschenk
einer Nähe,
in der mich das Mitfühlenkönnen mit dem Bösen oder mit dem
Guten ergreift, in der es
mich in der Knechtschaft
des bösen Willens - dem Nicht-fühlen-Könen des Guten - festhält oder zum
Mitfühlen-Können
mit dem guten Willen Gottes befreit."