Theologie-Systematisch
Theologische Anthropologie
§ 3. Die Geschöpflichkeit des Menschen
IV. Psychische und soziale Dimensionen des Lebens
Texte - Zeit

"Vielmehr ist die Zeit entweder wirkliche Zeit, in der Gott begegnet und
sein Wille vom Menschen empfangen wird, oder sie ist unwirkliche,
verlorene und verfallene Zeit, Zeit als... Ablauf, der zu nichts hinläuft."

(H.U.v. BALTHASAR, Theologie der Geschichte.
Ein Grundriss. Neue Fassung, Einsiedeln 51959, 32)



"mein Leben ist bloße Zerdehnung, aber 'Deine Rechte hat mich ergriffen' in meinem Herrn,
dem Menschensohn, der Mittler ist zwischen Dir, dem Einen, und uns, den Vielen..., damit ich
durch ihn 'zu erfassen vermöge, in welchem ich bereits erfasst worden bin, und ihm, dem Ein-
zigen nachfolgend, mich nunmehr aus vielen vergangenen Tagen zusammengerafft... ohne
Zerdehnung hindehne nicht auf Zukünftiges, das wieder vergeht, sondern auf 'das, was vor
mir liegt', nicht also gemäß einer Zerdehnung und Zersplitterung, sondern gemäß einer ge-
sammelten Hindehnung... ich bin in die Zeit hinein gespalten, deren Ordnung ich nicht er-
kenne, und in stürmischen Wechselfällen zerfetzen sich meine Gedanken, die tiefsten Ein-
geweide meiner Seele bis zum Tag, da ich geläutert und verflüssigt im Feuer Deiner Liebe
als ein Ganzer in Dich hinein zusammenfließe"


(Augustinus, Confessiones XI 29)


"Indem Gott der Schöpfung die Gabe verliehen hat, sich ihr Sein und Leben selbst
(mit)erwirken zu können, hat er ihr auch - unlösbar damit verbunden - die Gabe
der Zeit zukommen lassen. Schon von daher ist klar, daß Zeit nichts anderes sein
kann als Partizipation und Bild der Ewigkeit.  Ewigkeit... ist dabei kein lebloses
Nunc-Stans, sondern Leben und Lebendigkeit des göttlichen Lebensaustausches.

Für unsere Vorstellung ist Austausch von Personen nicht möglich ohne die Zeit
als 'Zwischenzeit der Freiheiten'. Sie ist gewissermaßen das, was zwischen Ruf und
Antwort, Erwartung und Entsprechung differenziert. Analog zu dieser Vorstellung
ist auch eine Form von 'Zeit' in Gott selbst anzunehmen, wenn wirklich die Bezie-
hung der drei göttlichen Personen Leben ist: Gabe, Empfang, Rück-Gabe. An
dieser 'göttlichen Zeit', der pulsierenden Ewigkeit, hat die geschöpfliche Zeit Anteil.
In der Zeit gewinnt das geschöpfliche Werden jenen Spielraum, indem das einzelne
über sich hinauszugehen und sich selbst mit anderen zusammen neu zu gewinnen
vermag. Nur was zeitlich ist, kann komplexer, vernetzter, mehr geeint werden.

Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß die Zeit nicht nur Zeit zum Handeln,
sondern auch zum Warten ist. Denn auf Grund des Eigenstands jeder Person hat
diese ihre 'persönliche' Zeit, die oft nicht mit der eigenen synchron zusammengeht.
Daher bedeutet Austausch von Personen unter dem Vorzeichen der Zeit geduldiges
Aufeinander-Warten, bis die einzelnen Zeiten miteinander abgestimmt und wahrhaft
zur einen und einzigen 'Zwischenzeit der Freiheiten' konstituiert sind. Auf Grund
dieses Vereinigungswesens der Zeit ist diese in besonderer Weise dem Geist zugeordnet.

Dieser durch und durch positive Sinn der Zeit wird nicht dadurch konterkariert, daß
Zeit auch Hinfälligkeit, Ende und Abbruch bedeutet, in der Sprache der Naturwissen-
schaften: daß für sie das Entropie-Gesetz und damit Irreversibilität und Vergänglich-
keit gelten. Denn 'ohne Ereignisse und aus ihnen hervorgehende Gestalten gibt es auch
keine Entropie. Diese ist im Verhältnis zu ihnen parasitär. In der schöpferischen Macht
der Zukunft als Feld des Möglichen aber äußert sich die Dynamik des göttlichen Geistes
in der Schöpfung' (Pannenberg, SystTh II 119). Vergänglichkeit und Hinfälligkeit
der Zeit sind auf die Zukunft hingeordnet, ihr Ende auf Vollendung."

 

(G. Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg 21997, 275f)