Eberhard SCHOCKENHOFF, Die Kunst zu lieben.
Unterwegs zu einer neuen Sexualethik, Freiburg/Bg. 2021;

Dieses Buch ist das Vermächtnis des im Sommer 2020 aufgrund eines Unfalls plötzlich verstorbenen, hoch
anerkannten Moraltheologen aus Freiburg. Wohl angestoßen durch seinen Vortrag zur Sexual- und Bezie-
hungsethik auf der Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe im Jahr 2019 - so informieren seine
Assistenten Hannes Groß und Philipp Haas in ihrem Vorwort - "setzte (Sch.) sich ein für ein zeitgemäßes
und lebensweltlich rückgebundenes Nachdenken über Sexualität und unterschiedliche Beziehungsformen
..., weg vom moralischen Zeigefinger hin zu einer Kunst des Liebens" (11). Lediglich das siebte und damit
abschließende Kapitel des Buches, "in dem er seine zuvor dargelegte Sexual- und Beziehungsethik noch-
mals auf konkrete Fragen hin anwenden wollte, konnte er nicht mehr vollenden. Konkret sollte es dabei
um die Frage nach vorehelichen Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die Se-
xualität von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie absolute Verbotstatbestände wie Missbrauch und
Vergewaltigung gehen" (12), informieren die Autoren des Vorwortes weiter, gerade um jene Sachverhal-
te also, die heute zum Teil in besonders intensiver Weise in Kirche und Gesellschaft Aufmerksamkeit er-
fahren und diskutiert werden.

Nun gehört einiges dazu, sich nach vielen Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten einer die Menschen bevor-
mundenden und oftmals auch entwürdigenden Verkündigung und Pastoral in Fragen der Geschlechtlichkeit
sowie den in den letzten Jahrzehnten bekannt gewordenen und zudem oft vertuschten erschreckend zahlrei-
chen Missbrauchsdelikten durch ebensolche Kleriker aus gerade diesem Themenbereich noch Lehren und
Hinweise der Kirche annehmen zu wollen. Allein: Das vorliegende Buch ist aus neuem Holz geschnitzt. Es
geht nicht mehr - wie Jahrhunderte zuvor - darum, Sexualität in ihrer Ambiguität, ja vielleicht sogar vorran-
gig in ihrem (vermeintlich) teuflischen Charakter darzustellen, entsprechende (Ab-)Wertungen vorzunehmen
und geeignete Maßnahmen zu ihrer Disziplinierung vorzuschreiben, sondern das gesamte Buch ist von dem
gut erkennbaren Bemühen getragen, diese Geschichte gerade kritisch vor ihren geistesgeschichtlichen Hin-
tergründen zu betrachten und nun umgekehrt auch die Sexualität als ein göttliches Geschenk zu betrachten,
das zum gelingenden Leben des Menschen beitragen kann und soll. Machen wir uns aber nichts vor: Das
ist gesamtkirchengeschichtlich betrachtet immer noch neu und eher noch Vorbote eines Paradigmas, das in
der Kirche insgesamt noch allererst zu einem ganz kleinen Teil verbreitet und rezipiert worden ist.

Das Buch selbst schlägt einen sehr weiten Bogen. Es beginnt - als Anreißer und Motivgeber - mit einem
Blick auf die gewandelte Sicht auf "Liebe und Sexualität in der Moderne" (TEIL I). Das aufgemachte
Spektrum reicht hier von psychoanalytisch-gesellschaftskritischen Sexualtheorien von Herbert Marcuse
und Wilhelm Reich über die Infragestellung der Ehe bei Schenk, Beck und Beck-Gernsheim bis hin zur
Darstellung von aktuellen konsumorientierten Formen in Telefonsex und Pornographie. Als wichtigste
Veränderung gegenüber einer traditionellen Gebots- und Verbotsmoral erkennt Sch., dass Sexualität in
der Gegenwart zu etwas Normalem, ganz selbstverständlich zum Leben Hinzugehörendem geworden ist,
das dadurch natürlich auch den Reiz und die Überschwenglichkeit des Verbotenen verloren hat und ein
Stück alltäglich geworden ist. Gleichzeitig ist damit aber nicht mehr das sexuelle Erleben selbst, sondern
dessen Einschränkung begründungsbedürftig. So lange ein respektvoller Umgang miteinander gepflegt
wird, erscheint das gemeinsame sexuelle Erleben nunmehr als selbstverständliche Privatsache, in die sich
auch das kirchliche Lehramt nicht einzumischen habe (69-72).

Vor diesem Hintergrund bietet TEIL II eine ausführliche historische Rückfrage zur Entstehung der heute
so fremd erscheinenden kirchlichen Sexualmoral. Deutlich wird dabei, dass es weniger das jesuanische
Evangelium als die stoische Philosophie ist, die von Beginn an die sexuelle Lust unter den Verdacht stellt,
vernunftwidrig und damit minderwertig zu sein und ihr Erleben deshalb lediglich dann für gerechtfertigt
hält, wenn es offen bleibt für die Erzeugung von Nachkommen (100f). Erst der Kirchenvater Augustinus
ist es aber bekanntlich, der die sexuelle Lust mit der Übertragung der Erbsünde verknüpft und ihr damit in-
nerkirchlich (und aufgrund des kirchlichen Einflusses auch weit darüber hinaus) einen KO-Schlag versetzt,
von dem sie sich bis heute nicht wirklich erholt hat. Er gab "der dunklen Seite der Sexualität und ihrem be-
drohlichen Charakter ein deutliches Über
gewicht gegenüber ihren lebensdienlichen und lustvollen Aspek-
ten" (125). Nach einer wenig verbesserten Situation im Mittelalter nimmt die in der frühen Neuzeit "von
den
Moraltheologen gelehrte Sexualethik endgültig die Form einer rigiden Verbotsmoral an" (156f).

Im TEIL III, der die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zum Apostolischen Lehrschreiben AMORIS LAETITIA
(2016) von Papst Franziskus in den Blick nimmt, schildert Sch. einen "langen Weg der Erneuerung". Der
ehelichen Liebe wird erstmals ein Eigenwert zuerkannt und damit auch der sexuellen Begegnung der Ehe-
leute. Nach langen Kämpfen überwindet das II. Vatikanische Konzil die traditionelle Lehre von den Ehe-
zwecken, insbesondere von der Dominanz des Fortpflanzungszweckes, und beschreibt die Ehe erstmals
mit personalen Kategorien als "Gemeinschaft der Liebe" und als "Bund". Allerdings, so die Lehre, bleibt
"die Ehe der einzige Ort..., an dem Sexualität rechtmäßig und verantwortlich gelebt werden kann" (199).
Die Enzyklika HUMANAE VITAE (1968), welche die Legitimation jedes einzelnen ehelichen Sexualak-
tes an seine prinzipielle Zeugungsoffenheit bindet, wird vielfach als herber Rückschlag in die Vergangen-
heit interpretiert. Das Lehrschreiben AMORIS LAETITIA anerkennt erstmals, dass für den Glaubwürdig-
keitsverlust der kirchlichen Sexualmoral "auch Defizite verantwortlich sind, die mit der kirchlichen Ehe-
und Sexualmoral selbst und den Sprach- und Denkformen zusammenhängen, in denen diese sich präsen-
tiert" (234).

TEIL IV behandelt "Bedeutungsdimensionen der menschlichen Sexualität", soll heißen: verschiedene Hu-
manwissenschaften werden daraufhin befragt, wie aufgrund der in ihrem Bereich vorgenommenen aktuel-
len Forschungen menschliche Sexualität heute gedeutet werden kann. Ergebnis dieser Befragung ist, dass
Sexualität natürlich ein biologischer Trieb ist, dass dieser natürlich der Fortpflanzung dient und dass er na-
türlich vielfältige Erfahrungen von Lust, Befriedigung und Erfüllung vermittelt, dass Sexualität aber zusam-
menfassend heute im Wesentlichen gedeutet werden kann, als eine "grundlegende Lebensenergie des Men-
schen", die "einer lebensgeschichtlichen Aufgabe (dient), der sich kein Mensch entziehen kann: des Auf-
baus
einer Welt der Geborgenheit, Intimität und Nähe, in der er sich in seinem individuellen So-Sein als
unbe
dingt bejaht und angenommen erleben kann" (306f). Sehr kritisch vermerkt Sch., dass "die traditio-
nelle
Sexualmoral... nach der Logik (verfuhr): Nur das Perfekte bildet die Norm, an der sich jede Art von
sexu
eller Aktivität messen lassen muss; was nicht zu 100% gut ist, trägt einen Defekt an sich, der ein sol-
ches
Handeln ungeordnet und falsch macht" (312).

Ein kurzer TEIL V schaut danach auf "biblische Perspektiven und ethische Prinzipien der Sexualmoral"
und stellt sowohl die gottebenbildliche Würde jedes Menschen als auch seine leib-seelische Einheit beson-
ders heraus. Die menschliche Zweigeschlechtlichkeit wird in ihrer Bedeutung für die Ergänzungsbedürftig-
keit und -fähigkeit des Menschen betrachtet und dabei die ebenbürtige Wertschätzung der Geschlechter ei-
gens betont. TEIL VI stellt die überkommene und aktuelle kirchliche "Sexualmoral auf den Prüfstand".
Sexualität wird in all ihren Dimensionen als Sprache der Liebe (an)erkannt und durchbuchstabiert, die Ehe
freilich auch als die heute oft gesuchte und erlebte verbindliche Lebensform der Liebe dargestellt. Für die
frühere kirchliche Lehrverkündigung wird mit Hinweis auf P. Franziskus von einer "übertriebenen Ideali-
sierung" der Ehe gesprochen (371/Amoris laetitia 36); demgegenüber müsse heute die Ehe als die "alltags-
taugliche Form" der gelebten Liebe verstanden werden, in der auch Belastungen und gegenseitige Zumu-
tungen nicht verdrängt werden (371). Die Ehe könne heute als eine Form der Berufung in die Nachfolge
Christi verstanden werden, die einen Lebensraum der verbindlich gelebten Liebe auch den verantwortlich
gezeugten und umsorgten Kindern gewährt. Dies müsse auch gesellschaftlich und staatlich mehr Anerken-
nung finden.

Im Ganzen spiegelt das Buch den ach so langen Weg der gesamten Kirchengeschichte, in der es erst heute
allmählich gelingt, der christliche Ehe und Familie und darin eingebunden auch der Sexualität jenen Stellen-
wert zuzuschreiben, der ihnen tatsächlich gebührt.

Herbert Frohnhofen, 24. Mai 2021